§. 19. Einerley Urkunde lehret auch immer einerley.
Da es nun eine gantze Reyhe von Menschen geben kan, die es einander nachsagen (§. 4. 5.); und zwar mit unveränderten Worten (wie haupt- sächlich bey Liedern geschiehet,); so ist klar, daß in diesem Falle, derjenige, der die Nachricht von dem hundersten Nachsager hat, die Geschichte eben so gut daraus erlernen kan, als sie der erste Nachsager daraus erlernet hat. Es ist zwar an dem, daß gleich der erste Nachsager seine eigene Gedancken und reflexiones bey der erhaltenen Nachricht hat, die vielleicht auch zum Theil nicht mit der Wahrheit übereinkommen; allein weil er nicht diese seine beygefügten Gedancken, sondern die Sache mit eben den Worten erzehlet, mit welchen sie ihm ist erzehlt worden, so haben we- der die wahren noch die falschen Gedancken des ersten Nachsagers in die Erkentniß des andern Nachsagers einen Einfluß. Und aus dieser Ur- sach, obgleich alle nachfolgende Nachsager auch ihre besondere Gedancken haben, und vielleicht manche falsche Gedancke bey der Geschichte haben, so kan doch nach späten Zeiten die Geschichte rich- tig erkannt werden, wenn nur die Worte und Formeln der Urkunde noch unverletzt beybehal- ten worden.
§. 20. Urkunden können mündlich fortgepflantzt werden.
Nun ist an dem, daß die Urkunde, wenn sie nicht schrifftlich abgefasset ist, sondern nur münd-
lich
v. d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.
§. 19. Einerley Urkunde lehret auch immer einerley.
Da es nun eine gantze Reyhe von Menſchen geben kan, die es einander nachſagen (§. 4. 5.); und zwar mit unveraͤnderten Worten (wie haupt- ſaͤchlich bey Liedern geſchiehet,); ſo iſt klar, daß in dieſem Falle, derjenige, der die Nachricht von dem hunderſten Nachſager hat, die Geſchichte eben ſo gut daraus erlernen kan, als ſie der erſte Nachſager daraus erlernet hat. Es iſt zwar an dem, daß gleich der erſte Nachſager ſeine eigene Gedancken und reflexiones bey der erhaltenen Nachricht hat, die vielleicht auch zum Theil nicht mit der Wahrheit uͤbereinkommen; allein weil er nicht dieſe ſeine beygefuͤgten Gedancken, ſondern die Sache mit eben den Worten erzehlet, mit welchen ſie ihm iſt erzehlt worden, ſo haben we- der die wahren noch die falſchen Gedancken des erſten Nachſagers in die Erkentniß des andern Nachſagers einen Einfluß. Und aus dieſer Ur- ſach, obgleich alle nachfolgende Nachſager auch ihre beſondere Gedancken haben, und vielleicht manche falſche Gedancke bey der Geſchichte haben, ſo kan doch nach ſpaͤten Zeiten die Geſchichte rich- tig erkannt werden, wenn nur die Worte und Formeln der Urkunde noch unverletzt beybehal- ten worden.
§. 20. Urkunden koͤnnen muͤndlich fortgepflantzt werden.
Nun iſt an dem, daß die Urkunde, wenn ſie nicht ſchrifftlich abgefaſſet iſt, ſondern nur muͤnd-
lich
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v. d. Ausbreitung u. Fortpflantzung ꝛc.
§. 19.
Einerley Urkunde lehret auch immer einerley.
Da es nun eine gantze Reyhe von Menſchen
geben kan, die es einander nachſagen (§. 4. 5.);
und zwar mit unveraͤnderten Worten (wie haupt-
ſaͤchlich bey Liedern geſchiehet,); ſo iſt klar, daß
in dieſem Falle, derjenige, der die Nachricht von
dem hunderſten Nachſager hat, die Geſchichte
eben ſo gut daraus erlernen kan, als ſie der erſte
Nachſager daraus erlernet hat. Es iſt zwar an
dem, daß gleich der erſte Nachſager ſeine eigene
Gedancken und reflexiones bey der erhaltenen
Nachricht hat, die vielleicht auch zum Theil nicht
mit der Wahrheit uͤbereinkommen; allein weil er
nicht dieſe ſeine beygefuͤgten Gedancken, ſondern
die Sache mit eben den Worten erzehlet, mit
welchen ſie ihm iſt erzehlt worden, ſo haben we-
der die wahren noch die falſchen Gedancken des
erſten Nachſagers in die Erkentniß des andern
Nachſagers einen Einfluß. Und aus dieſer Ur-
ſach, obgleich alle nachfolgende Nachſager auch
ihre beſondere Gedancken haben, und vielleicht
manche falſche Gedancke bey der Geſchichte haben,
ſo kan doch nach ſpaͤten Zeiten die Geſchichte rich-
tig erkannt werden, wenn nur die Worte und
Formeln der Urkunde noch unverletzt beybehal-
ten worden.
§. 20.
Urkunden koͤnnen muͤndlich fortgepflantzt
werden.
Nun iſt an dem, daß die Urkunde, wenn ſie
nicht ſchrifftlich abgefaſſet iſt, ſondern nur muͤnd-
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Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752. , S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/211>, abgerufen am 13.11.2024.
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