Seelen mit andern Begriffen erfüllet, so bringt auch jeder gantz andere Begriffe zur Betrachtung jeder vor Augen habenden Sache; und macht da- her auch gantz andere Urtheile, als der andere. Geld umsetzen kommt uns schon als eine wich- tige Handlung vor: ein wilder Amerikaner, der den Handel nicht verstehet, würde solches vor ein blosses Umtauschen ansehen, ohne daran zu geden- cken, was wir agio nennen, und weil ihm die Ab- sicht unbekannt, solches vor ein Spiel halten, wie Kinder mit einander zu treiben pflegen.
§. 26. Ein Zuschauer erlangt keine vollständige Geschichte.
Wenn ein Zuschauer die Begebenheiten, wel- che er selbst wahrnimmt, sorgfältig zusammen fas- set, so wird doch gemeiniglich keine vollständige Geschichte daraus entstehen. Denn weil er die Sache nach seinem Stande ansiehet (§. 8.) so ist ihm manches verborgen, welches doch zur Geschich- te gehöret. So sollte man meinen, daß von dem Artzte die Historie einer Kranckheit am allerbe- sten zu erfahren sey; und so ist es auch würcklich, nehmlich in so ferne der Artzt nach seinem Stan- de, oder Amte, Nachricht von der Kranckheit ha- ben kan und muß. Wie aber sein Amt nicht ist, den Krancken zu warten, oder beständig um ihn zu seyn: also kan gleichwohl, ohne sein Vorwis- sen, vieles vorgehen, viele Zufälle können sich er- eignen, wodurch der Zustand der Kranckheit gar sehr geändert wird (§. 3. C. 1.). Wenn man
eine
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vom Zuſchauer und Sehepunckte.
Seelen mit andern Begriffen erfuͤllet, ſo bringt auch jeder gantz andere Begriffe zur Betrachtung jeder vor Augen habenden Sache; und macht da- her auch gantz andere Urtheile, als der andere. Geld umſetzen kommt uns ſchon als eine wich- tige Handlung vor: ein wilder Amerikaner, der den Handel nicht verſtehet, wuͤrde ſolches vor ein bloſſes Umtauſchen anſehen, ohne daran zu geden- cken, was wir agio nennen, und weil ihm die Ab- ſicht unbekannt, ſolches vor ein Spiel halten, wie Kinder mit einander zu treiben pflegen.
§. 26. Ein Zuſchauer erlangt keine vollſtaͤndige Geſchichte.
Wenn ein Zuſchauer die Begebenheiten, wel- che er ſelbſt wahrnimmt, ſorgfaͤltig zuſammen faſ- ſet, ſo wird doch gemeiniglich keine vollſtaͤndige Geſchichte daraus entſtehen. Denn weil er die Sache nach ſeinem Stande anſiehet (§. 8.) ſo iſt ihm manches verborgen, welches doch zur Geſchich- te gehoͤret. So ſollte man meinen, daß von dem Artzte die Hiſtorie einer Kranckheit am allerbe- ſten zu erfahren ſey; und ſo iſt es auch wuͤrcklich, nehmlich in ſo ferne der Artzt nach ſeinem Stan- de, oder Amte, Nachricht von der Kranckheit ha- ben kan und muß. Wie aber ſein Amt nicht iſt, den Krancken zu warten, oder beſtaͤndig um ihn zu ſeyn: alſo kan gleichwohl, ohne ſein Vorwiſ- ſen, vieles vorgehen, viele Zufaͤlle koͤnnen ſich er- eignen, wodurch der Zuſtand der Kranckheit gar ſehr geaͤndert wird (§. 3. C. 1.). Wenn man
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vom Zuſchauer und Sehepunckte.
Seelen mit andern Begriffen erfuͤllet, ſo bringt
auch jeder gantz andere Begriffe zur Betrachtung
jeder vor Augen habenden Sache; und macht da-
her auch gantz andere Urtheile, als der andere.
Geld umſetzen kommt uns ſchon als eine wich-
tige Handlung vor: ein wilder Amerikaner, der
den Handel nicht verſtehet, wuͤrde ſolches vor ein
bloſſes Umtauſchen anſehen, ohne daran zu geden-
cken, was wir agio nennen, und weil ihm die Ab-
ſicht unbekannt, ſolches vor ein Spiel halten, wie
Kinder mit einander zu treiben pflegen.
§. 26.
Ein Zuſchauer erlangt keine vollſtaͤndige
Geſchichte.
Wenn ein Zuſchauer die Begebenheiten, wel-
che er ſelbſt wahrnimmt, ſorgfaͤltig zuſammen faſ-
ſet, ſo wird doch gemeiniglich keine vollſtaͤndige
Geſchichte daraus entſtehen. Denn weil er die
Sache nach ſeinem Stande anſiehet (§. 8.) ſo iſt
ihm manches verborgen, welches doch zur Geſchich-
te gehoͤret. So ſollte man meinen, daß von dem
Artzte die Hiſtorie einer Kranckheit am allerbe-
ſten zu erfahren ſey; und ſo iſt es auch wuͤrcklich,
nehmlich in ſo ferne der Artzt nach ſeinem Stan-
de, oder Amte, Nachricht von der Kranckheit ha-
ben kan und muß. Wie aber ſein Amt nicht iſt,
den Krancken zu warten, oder beſtaͤndig um ihn
zu ſeyn: alſo kan gleichwohl, ohne ſein Vorwiſ-
ſen, vieles vorgehen, viele Zufaͤlle koͤnnen ſich er-
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Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752. , S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/149>, abgerufen am 16.02.2025.
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