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Chladni, Ernst Florens Friedrich: Die Akustik. Leipzig, 1802.

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gesetzte Krümmungen annimmt, wie in Fig. 5 bis 8 zu sehen sind; weitere Erläuterungen
hierüber verspare ich des Zusammenhanges wegen zu dem 9ten Abschnitte dieses Theiles.

55.

Ueber die Beschaffenheit der krummen Linien, welche eine Saite bey ihren Schwin-
gungen annimmt, sind die Behauptungen der größten Geometer ganz verschieden. Taylor,
Daniel Bernoulli,
und Graf Giordano Riccati haben gefunden, daß die Krüm-
mungen allemahl mit einer sehr verlängerten Cycloide übereinkommen, und daß, wenn L die
Länge der Saite, p den halben Umfang eines Zirkels, dessen Halbmesser = 1 ist, bedeutet;
die größe Applicate in der Mitte eines schwingenden Theils bey der ersten Schwingungsart
durch A, bey der zweyten durch B, bey der dritten durch C u. s. f. ausgedrückt wird; x eine
beliebige Abscisse, und y die zu dieser Abscisse gehörige Applicate bedeutet; für die erste
Schwingungsart y = A sin. , für die zweyte y = B sin. , für die dritte y = C sin.
sey u. s. w. Den Untersuchungen L. Eulers zufolge ist aber die krumme Linie, welche die
Saite annehmen kann, ganz willkührlich, und hängt blos von der ersten Biegung ab, die
man der Saite giebt, so daß nicht einmahl ein Zusammenhang der verschiedenen Theile dieser
Krümmung nach irgend einem Gesetze der Stetigkeit erfordert wird, und also auch solche
krumme Linien Statt finden können, die sich durch gar keine Gleichung ausdrücken lassen; daß
aber allemahl jeder schwingende Theil einerley Krümmung nach abwechselnden Richtungen
annehme, und man also, um eine solche krumme Linie zu zeichnen, nichts weiter nöthig habe,
als die ganz willkührlich angenommene Krümmung eines schwingenden Theils für die benachbar-
ten Theile auf eine ähnliche Art auf der andern Seite der Axe zu verlängern. La Grange
ist größtentheils Eulers Meynung zugethan. D'Alembert behauptet zwar ebenfalls, daß
außer den Taylorschen Cycloiden auch andere krumme Linien Statt finden können, läugnet
aber, daß eine Saite auch solche Krümmungen annehmen könne, deren Theile nach keinem
Gesetze der Stetigkeit zusammenhängen.

Anm. Die Ursache dieser Uneinigkeit der größten Geometer ist, weil man durch Untersuchung der
Schwingungen einer Saite zuerst auf Differentialgleichungen mit brey veränderlichen Größen ge-
kommen ist, durch deren Jntegration man willkührliche und veränderliche Functionen erhält, und
man noch nicht hat bestimmen können, ob diese Functionen vollkommen wiükührlich sind, und ob
alle mögliche Krümmungen, auch solche, die nicht stetig sind (curvae discontinuae) darunter
begriffen seyn können, oder nur solche, die sich durch irgend eine algebraische oder transcendente

geſetzte Kruͤmmungen annimmt, wie in Fig. 5 bis 8 zu ſehen ſind; weitere Erlaͤuterungen
hieruͤber verſpare ich des Zuſammenhanges wegen zu dem 9ten Abſchnitte dieſes Theiles.

55.

Ueber die Beſchaffenheit der krummen Linien, welche eine Saite bey ihren Schwin-
gungen annimmt, ſind die Behauptungen der groͤßten Geometer ganz verſchieden. Taylor,
Daniel Bernoulli,
und Graf Giordano Riccati haben gefunden, daß die Kruͤm-
mungen allemahl mit einer ſehr verlaͤngerten Cycloide uͤbereinkommen, und daß, wenn L die
Laͤnge der Saite, π den halben Umfang eines Zirkels, deſſen Halbmeſſer = 1 iſt, bedeutet;
die groͤße Applicate in der Mitte eines ſchwingenden Theils bey der erſten Schwingungsart
durch A, bey der zweyten durch B, bey der dritten durch C u. ſ. f. ausgedruͤckt wird; x eine
beliebige Abſciſſe, und y die zu dieſer Abſciſſe gehoͤrige Applicate bedeutet; fuͤr die erſte
Schwingungsart y = A sin. , fuͤr die zweyte y = B sin. , fuͤr die dritte y = C sin.
ſey u. ſ. w. Den Unterſuchungen L. Eulers zufolge iſt aber die krumme Linie, welche die
Saite annehmen kann, ganz willkuͤhrlich, und haͤngt blos von der erſten Biegung ab, die
man der Saite giebt, ſo daß nicht einmahl ein Zuſammenhang der verſchiedenen Theile dieſer
Kruͤmmung nach irgend einem Geſetze der Stetigkeit erfordert wird, und alſo auch ſolche
krumme Linien Statt finden koͤnnen, die ſich durch gar keine Gleichung ausdruͤcken laſſen; daß
aber allemahl jeder ſchwingende Theil einerley Kruͤmmung nach abwechſelnden Richtungen
annehme, und man alſo, um eine ſolche krumme Linie zu zeichnen, nichts weiter noͤthig habe,
als die ganz willkuͤhrlich angenommene Kruͤmmung eines ſchwingenden Theils fuͤr die benachbar-
ten Theile auf eine aͤhnliche Art auf der andern Seite der Axe zu verlaͤngern. La Grange
iſt groͤßtentheils Eulers Meynung zugethan. D’Alembert behauptet zwar ebenfalls, daß
außer den Taylorſchen Cycloiden auch andere krumme Linien Statt finden koͤnnen, laͤugnet
aber, daß eine Saite auch ſolche Kruͤmmungen annehmen koͤnne, deren Theile nach keinem
Geſetze der Stetigkeit zuſammenhaͤngen.

Anm. Die Urſache dieſer Uneinigkeit der groͤßten Geometer iſt, weil man durch Unterſuchung der
Schwingungen einer Saite zuerſt auf Differentialgleichungen mit brey veraͤnderlichen Groͤßen ge-
kommen iſt, durch deren Jntegration man willkuͤhrliche und veraͤnderliche Functionen erhaͤlt, und
man noch nicht hat beſtimmen koͤnnen, ob dieſe Functionen vollkommen wiuͤkuͤhrlich ſind, und ob
alle moͤgliche Kruͤmmungen, auch ſolche, die nicht ſtetig ſind (curvae discontinuae) darunter
begriffen ſeyn koͤnnen, oder nur ſolche, die ſich durch irgend eine algebraiſche oder tranſcendente
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[70/0104] geſetzte Kruͤmmungen annimmt, wie in Fig. 5 bis 8 zu ſehen ſind; weitere Erlaͤuterungen hieruͤber verſpare ich des Zuſammenhanges wegen zu dem 9ten Abſchnitte dieſes Theiles. 55. Ueber die Beſchaffenheit der krummen Linien, welche eine Saite bey ihren Schwin- gungen annimmt, ſind die Behauptungen der groͤßten Geometer ganz verſchieden. Taylor, Daniel Bernoulli, und Graf Giordano Riccati haben gefunden, daß die Kruͤm- mungen allemahl mit einer ſehr verlaͤngerten Cycloide uͤbereinkommen, und daß, wenn L die Laͤnge der Saite, π den halben Umfang eines Zirkels, deſſen Halbmeſſer = 1 iſt, bedeutet; die groͤße Applicate in der Mitte eines ſchwingenden Theils bey der erſten Schwingungsart durch A, bey der zweyten durch B, bey der dritten durch C u. ſ. f. ausgedruͤckt wird; x eine beliebige Abſciſſe, und y die zu dieſer Abſciſſe gehoͤrige Applicate bedeutet; fuͤr die erſte Schwingungsart y = A sin. [FORMEL], fuͤr die zweyte y = B sin. [FORMEL], fuͤr die dritte y = C sin. [FORMEL] ſey u. ſ. w. Den Unterſuchungen L. Eulers zufolge iſt aber die krumme Linie, welche die Saite annehmen kann, ganz willkuͤhrlich, und haͤngt blos von der erſten Biegung ab, die man der Saite giebt, ſo daß nicht einmahl ein Zuſammenhang der verſchiedenen Theile dieſer Kruͤmmung nach irgend einem Geſetze der Stetigkeit erfordert wird, und alſo auch ſolche krumme Linien Statt finden koͤnnen, die ſich durch gar keine Gleichung ausdruͤcken laſſen; daß aber allemahl jeder ſchwingende Theil einerley Kruͤmmung nach abwechſelnden Richtungen annehme, und man alſo, um eine ſolche krumme Linie zu zeichnen, nichts weiter noͤthig habe, als die ganz willkuͤhrlich angenommene Kruͤmmung eines ſchwingenden Theils fuͤr die benachbar- ten Theile auf eine aͤhnliche Art auf der andern Seite der Axe zu verlaͤngern. La Grange iſt groͤßtentheils Eulers Meynung zugethan. D’Alembert behauptet zwar ebenfalls, daß außer den Taylorſchen Cycloiden auch andere krumme Linien Statt finden koͤnnen, laͤugnet aber, daß eine Saite auch ſolche Kruͤmmungen annehmen koͤnne, deren Theile nach keinem Geſetze der Stetigkeit zuſammenhaͤngen. Anm. Die Urſache dieſer Uneinigkeit der groͤßten Geometer iſt, weil man durch Unterſuchung der Schwingungen einer Saite zuerſt auf Differentialgleichungen mit brey veraͤnderlichen Groͤßen ge- kommen iſt, durch deren Jntegration man willkuͤhrliche und veraͤnderliche Functionen erhaͤlt, und man noch nicht hat beſtimmen koͤnnen, ob dieſe Functionen vollkommen wiuͤkuͤhrlich ſind, und ob alle moͤgliche Kruͤmmungen, auch ſolche, die nicht ſtetig ſind (curvae discontinuae) darunter begriffen ſeyn koͤnnen, oder nur ſolche, die ſich durch irgend eine algebraiſche oder tranſcendente

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Zitationshilfe: Chladni, Ernst Florens Friedrich: Die Akustik. Leipzig, 1802, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_akustik_1802/104>, abgerufen am 25.11.2024.