Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihl's wundersame Geschichte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–98. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.dem Einfall Schlemihl's, sich einen Schlagschatten statt des verlorenen malen lassen zu wollen, aus seinen Ausreden, der Schatten sei ihm in Rußland an den Boden gefroren zurückgeblieben, oder es sei ihm Jemand ungeschickt daraus getreten, so daß er ihn habe in Reparatur geben müssen, oder es seien ihm in einer Krankheit Haare, Nägel und Schatten ausgegangen, aus diesen Schnurren klingt noch immer das Gelächter der beiden Freunde nach, mit welchem sie sich das "Unglück" und dessen etwaige Vertuschung "ausmalten". Die tiefinnige Dichtung, die aus diesem drolligen Spiel erwachsen ist, leidet etwas an den Zufälligkeiten ihres Ursprungs, sofern man sich immer wieder ein wenig zum poetischen Glauben zwingen muß, und das um so mehr, als die Erzählung zwischen Allegorie und Märchen schwankt, ohne völlig eines von beiden zu sein. Doch bricht die Dichtung in ihrer Einfachheit so mächtig wirkend durch, daß alle derartige Bedenken schwinden, und die seelenvolle Wendung im Schlemihlio läßt auch den hartnäckigsten Verstand die Frage, ob ein Mensch sich seines Schattens entäußern könne, vergessen. Man hat über die Bedeutung dieses Gedankens, den der Dichter selbst nur leicht und scherzhaft erörtert, viel gestritten, ohne Erfolg, weil echte Poesie sich zu keiner erschöpfenden prosaischen Auslegung hergiebt. Zweifellos ist es, daß Chamisso in der Person Schlemihl's sich selbst mit seiner gewohnten schwarzen Kurtka geschildert hat; und da liegt es denn sehr nahe, den Menschen ohne Vaterland und Existenz, der er Anno 13 war, mit einem Menschen ohne Schatten zu vergleichen, nur daß diese dürftige Allegorie entfernt nicht hinreicht, der Dichtung auf den Grund zu kommen. Varnhagen versprach, allerlei sonstige persönliche Beziehungen, die der Dichter hineingeheimnisset habe, mit der Zeit enthüllen zu wollen, aber er hat dies unseres Wissens nicht gethan. Und zu was würde es auch helfen, ein schönes Ganzes in mehr oder minder gleichgültige Einzelheiten zu zerreißen? Ueberdies kann man mit derlei Deutungen gewaltig fehl gehen. Wer mit Chamisso's Regesten nicht bekannt ist, wird alsbald den gelungensten Nachweis führen können, daß unter Schlemihl dem Naturforscher, der mit seinen Siebenmeilenstiefeln die Welt umgeht, Niemand dem Einfall Schlemihl's, sich einen Schlagschatten statt des verlorenen malen lassen zu wollen, aus seinen Ausreden, der Schatten sei ihm in Rußland an den Boden gefroren zurückgeblieben, oder es sei ihm Jemand ungeschickt daraus getreten, so daß er ihn habe in Reparatur geben müssen, oder es seien ihm in einer Krankheit Haare, Nägel und Schatten ausgegangen, aus diesen Schnurren klingt noch immer das Gelächter der beiden Freunde nach, mit welchem sie sich das „Unglück“ und dessen etwaige Vertuschung „ausmalten“. Die tiefinnige Dichtung, die aus diesem drolligen Spiel erwachsen ist, leidet etwas an den Zufälligkeiten ihres Ursprungs, sofern man sich immer wieder ein wenig zum poetischen Glauben zwingen muß, und das um so mehr, als die Erzählung zwischen Allegorie und Märchen schwankt, ohne völlig eines von beiden zu sein. Doch bricht die Dichtung in ihrer Einfachheit so mächtig wirkend durch, daß alle derartige Bedenken schwinden, und die seelenvolle Wendung im Schlemihlio läßt auch den hartnäckigsten Verstand die Frage, ob ein Mensch sich seines Schattens entäußern könne, vergessen. Man hat über die Bedeutung dieses Gedankens, den der Dichter selbst nur leicht und scherzhaft erörtert, viel gestritten, ohne Erfolg, weil echte Poesie sich zu keiner erschöpfenden prosaischen Auslegung hergiebt. Zweifellos ist es, daß Chamisso in der Person Schlemihl's sich selbst mit seiner gewohnten schwarzen Kurtka geschildert hat; und da liegt es denn sehr nahe, den Menschen ohne Vaterland und Existenz, der er Anno 13 war, mit einem Menschen ohne Schatten zu vergleichen, nur daß diese dürftige Allegorie entfernt nicht hinreicht, der Dichtung auf den Grund zu kommen. Varnhagen versprach, allerlei sonstige persönliche Beziehungen, die der Dichter hineingeheimnisset habe, mit der Zeit enthüllen zu wollen, aber er hat dies unseres Wissens nicht gethan. Und zu was würde es auch helfen, ein schönes Ganzes in mehr oder minder gleichgültige Einzelheiten zu zerreißen? Ueberdies kann man mit derlei Deutungen gewaltig fehl gehen. Wer mit Chamisso's Regesten nicht bekannt ist, wird alsbald den gelungensten Nachweis führen können, daß unter Schlemihl dem Naturforscher, der mit seinen Siebenmeilenstiefeln die Welt umgeht, Niemand <TEI> <text> <front> <div type="preface"> <p><pb facs="#f0008"/> dem Einfall Schlemihl's, sich einen Schlagschatten statt des verlorenen malen lassen zu wollen, aus seinen Ausreden, der Schatten sei ihm in Rußland an den Boden gefroren zurückgeblieben, oder es sei ihm Jemand ungeschickt daraus getreten, so daß er ihn habe in Reparatur geben müssen, oder es seien ihm in einer Krankheit Haare, Nägel und Schatten ausgegangen, aus diesen Schnurren klingt noch immer das Gelächter der beiden Freunde nach, mit welchem sie sich das „Unglück“ und dessen etwaige Vertuschung „ausmalten“. Die tiefinnige Dichtung, die aus diesem drolligen Spiel erwachsen ist, leidet etwas an den Zufälligkeiten ihres Ursprungs, sofern man sich immer wieder ein wenig zum poetischen Glauben zwingen muß, und das um so mehr, als die Erzählung zwischen Allegorie und Märchen schwankt, ohne völlig eines von beiden zu sein. Doch bricht die Dichtung in ihrer Einfachheit so mächtig wirkend durch, daß alle derartige Bedenken schwinden, und die seelenvolle Wendung im Schlemihlio läßt auch den hartnäckigsten Verstand die Frage, ob ein Mensch sich seines Schattens entäußern könne, vergessen. Man hat über die Bedeutung dieses Gedankens, den der Dichter selbst nur leicht und scherzhaft erörtert, viel gestritten, ohne Erfolg, weil echte Poesie sich zu keiner erschöpfenden prosaischen Auslegung hergiebt. Zweifellos ist es, daß Chamisso in der Person Schlemihl's sich selbst mit seiner gewohnten schwarzen Kurtka geschildert hat; und da liegt es denn sehr nahe, den Menschen ohne Vaterland und Existenz, der er Anno 13 war, mit einem Menschen ohne Schatten zu vergleichen, nur daß diese dürftige Allegorie entfernt nicht hinreicht, der Dichtung auf den Grund zu kommen. Varnhagen versprach, allerlei sonstige persönliche Beziehungen, die der Dichter hineingeheimnisset habe, mit der Zeit enthüllen zu wollen, aber er hat dies unseres Wissens nicht gethan. Und zu was würde es auch helfen, ein schönes Ganzes in mehr oder minder gleichgültige Einzelheiten zu zerreißen? Ueberdies kann man mit derlei Deutungen gewaltig fehl gehen. Wer mit Chamisso's Regesten nicht bekannt ist, wird alsbald den gelungensten Nachweis führen können, daß unter Schlemihl dem Naturforscher, der mit seinen Siebenmeilenstiefeln die Welt umgeht, Niemand<lb/></p> </div> </front> </text> </TEI> [0008]
dem Einfall Schlemihl's, sich einen Schlagschatten statt des verlorenen malen lassen zu wollen, aus seinen Ausreden, der Schatten sei ihm in Rußland an den Boden gefroren zurückgeblieben, oder es sei ihm Jemand ungeschickt daraus getreten, so daß er ihn habe in Reparatur geben müssen, oder es seien ihm in einer Krankheit Haare, Nägel und Schatten ausgegangen, aus diesen Schnurren klingt noch immer das Gelächter der beiden Freunde nach, mit welchem sie sich das „Unglück“ und dessen etwaige Vertuschung „ausmalten“. Die tiefinnige Dichtung, die aus diesem drolligen Spiel erwachsen ist, leidet etwas an den Zufälligkeiten ihres Ursprungs, sofern man sich immer wieder ein wenig zum poetischen Glauben zwingen muß, und das um so mehr, als die Erzählung zwischen Allegorie und Märchen schwankt, ohne völlig eines von beiden zu sein. Doch bricht die Dichtung in ihrer Einfachheit so mächtig wirkend durch, daß alle derartige Bedenken schwinden, und die seelenvolle Wendung im Schlemihlio läßt auch den hartnäckigsten Verstand die Frage, ob ein Mensch sich seines Schattens entäußern könne, vergessen. Man hat über die Bedeutung dieses Gedankens, den der Dichter selbst nur leicht und scherzhaft erörtert, viel gestritten, ohne Erfolg, weil echte Poesie sich zu keiner erschöpfenden prosaischen Auslegung hergiebt. Zweifellos ist es, daß Chamisso in der Person Schlemihl's sich selbst mit seiner gewohnten schwarzen Kurtka geschildert hat; und da liegt es denn sehr nahe, den Menschen ohne Vaterland und Existenz, der er Anno 13 war, mit einem Menschen ohne Schatten zu vergleichen, nur daß diese dürftige Allegorie entfernt nicht hinreicht, der Dichtung auf den Grund zu kommen. Varnhagen versprach, allerlei sonstige persönliche Beziehungen, die der Dichter hineingeheimnisset habe, mit der Zeit enthüllen zu wollen, aber er hat dies unseres Wissens nicht gethan. Und zu was würde es auch helfen, ein schönes Ganzes in mehr oder minder gleichgültige Einzelheiten zu zerreißen? Ueberdies kann man mit derlei Deutungen gewaltig fehl gehen. Wer mit Chamisso's Regesten nicht bekannt ist, wird alsbald den gelungensten Nachweis führen können, daß unter Schlemihl dem Naturforscher, der mit seinen Siebenmeilenstiefeln die Welt umgeht, Niemand
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Zitationshilfe: | Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihl's wundersame Geschichte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–98. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamisso_schlemihl_1910/8>, abgerufen am 16.07.2024. |