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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Der Kampf.
tissimae et saevissimae mentes (De civ. I, 7), Rom einnahmen, und
wie die wilden Vandalen seine afrikanische Geburtsstätte verwüsteten,
bedenkt man, sage ich, welche schreckenerregende Umgebung auf
diesen hohen Geist von allen Seiten eindrang, so wird man sich nicht
darüber verwundern, dass ein Mann, der in jeder anderen Zeit für
Freiheit und Wahrheit gegen Gewissenstyrannei und Korruption auf-
getreten wäre, hier das Gewicht seiner Persönlichkeit in die Wag-
schale der Autorität und des unbedingten hierokratischen Despotismus
warf. Ähnlich wie bei Paulus fällt es keinem Wissenden schwer,
zwischen der wahren inneren Religion des Augustinus und der ihm
aufgezwungenen zu unterscheiden; hier ist aber, durch die Fort-
entwickelung des Christentums, die Sache viel tragischer geworden,
denn die Unbefangenheit und damit auch die wahre Grösse des Menschen
ist verloren. Nicht frank und frei und sorglos widerspricht sich dieser
Mann, sondern er ist bereits geknechtet, der Widerspruch wird ihm
von fremder Hand aufgenötigt. Es handelt sich hier nicht lediglich
wie bei Paulus um zwei nebeneinander laufende Weltanschauungen;
auch nicht bloss darum, dass ein Drittes inzwischen hinzugekommen
ist: die Mysterien, Sakramente und Ceremonien aus dem Völkerchaos;
sondern Augustinus muss heute das Gegenteil von dem behaupten,
was er gestern sagte: er muss es, um auf Menschen, die ihn sonst
nicht verstehen würden, wirken zu können; er muss es, weil er sein
selbständiges Urteil auf der Schwelle der römischen Kirche ihr zum
Opfer gebracht hat; er muss es, um sich nicht irgend eine spitz-
findige dialektische Sophisterei im Dispute mit angeblichen Sektierern
entgehen zu lassen. Es ist ein tragischer Anblick. Niemand hatte
z. B. klarer als Augustinus eingesehen, welche verhängnisvolle Folgen
der gezwungene Übertritt zum Christentum für das Christentum selber
mit sich führe; schon zu seiner Zeit überwogen in der Kirche (nament-
lich in Italien) diejenigen Menschen, die in gar keiner innerlichen Be-
ziehung zur christlichen Religion standen und die den neuen Mysterien-
kult an Stelle des alten nur annahmen, weil der Staat es forderte.
Der Eine, berichtet Augustinus, wird Christ, weil sein Dienstgeber
es befiehlt, der Andere, weil er durch die Verwendung des Bischofs
einen Prozess zu gewinnen hofft,1) der Dritte wünscht eine Anstellung,
ein Vierter erhält dadurch eine reiche Frau. Schmerzerfüllt schaut
Augustinus diesem Vorgang zu, der auch thatsächlich das knochen-

1) Über die Bischöfe als Richter in Civilprozessen, siehe weiter unten.

Der Kampf.
tissimae et saevissimae mentes (De civ. I, 7), Rom einnahmen, und
wie die wilden Vandalen seine afrikanische Geburtsstätte verwüsteten,
bedenkt man, sage ich, welche schreckenerregende Umgebung auf
diesen hohen Geist von allen Seiten eindrang, so wird man sich nicht
darüber verwundern, dass ein Mann, der in jeder anderen Zeit für
Freiheit und Wahrheit gegen Gewissenstyrannei und Korruption auf-
getreten wäre, hier das Gewicht seiner Persönlichkeit in die Wag-
schale der Autorität und des unbedingten hierokratischen Despotismus
warf. Ähnlich wie bei Paulus fällt es keinem Wissenden schwer,
zwischen der wahren inneren Religion des Augustinus und der ihm
aufgezwungenen zu unterscheiden; hier ist aber, durch die Fort-
entwickelung des Christentums, die Sache viel tragischer geworden,
denn die Unbefangenheit und damit auch die wahre Grösse des Menschen
ist verloren. Nicht frank und frei und sorglos widerspricht sich dieser
Mann, sondern er ist bereits geknechtet, der Widerspruch wird ihm
von fremder Hand aufgenötigt. Es handelt sich hier nicht lediglich
wie bei Paulus um zwei nebeneinander laufende Weltanschauungen;
auch nicht bloss darum, dass ein Drittes inzwischen hinzugekommen
ist: die Mysterien, Sakramente und Ceremonien aus dem Völkerchaos;
sondern Augustinus muss heute das Gegenteil von dem behaupten,
was er gestern sagte: er muss es, um auf Menschen, die ihn sonst
nicht verstehen würden, wirken zu können; er muss es, weil er sein
selbständiges Urteil auf der Schwelle der römischen Kirche ihr zum
Opfer gebracht hat; er muss es, um sich nicht irgend eine spitz-
findige dialektische Sophisterei im Dispute mit angeblichen Sektierern
entgehen zu lassen. Es ist ein tragischer Anblick. Niemand hatte
z. B. klarer als Augustinus eingesehen, welche verhängnisvolle Folgen
der gezwungene Übertritt zum Christentum für das Christentum selber
mit sich führe; schon zu seiner Zeit überwogen in der Kirche (nament-
lich in Italien) diejenigen Menschen, die in gar keiner innerlichen Be-
ziehung zur christlichen Religion standen und die den neuen Mysterien-
kult an Stelle des alten nur annahmen, weil der Staat es forderte.
Der Eine, berichtet Augustinus, wird Christ, weil sein Dienstgeber
es befiehlt, der Andere, weil er durch die Verwendung des Bischofs
einen Prozess zu gewinnen hofft,1) der Dritte wünscht eine Anstellung,
ein Vierter erhält dadurch eine reiche Frau. Schmerzerfüllt schaut
Augustinus diesem Vorgang zu, der auch thatsächlich das knochen-

1) Über die Bischöfe als Richter in Civilprozessen, siehe weiter unten.
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[594/0073] Der Kampf. tissimae et saevissimae mentes (De civ. I, 7), Rom einnahmen, und wie die wilden Vandalen seine afrikanische Geburtsstätte verwüsteten, bedenkt man, sage ich, welche schreckenerregende Umgebung auf diesen hohen Geist von allen Seiten eindrang, so wird man sich nicht darüber verwundern, dass ein Mann, der in jeder anderen Zeit für Freiheit und Wahrheit gegen Gewissenstyrannei und Korruption auf- getreten wäre, hier das Gewicht seiner Persönlichkeit in die Wag- schale der Autorität und des unbedingten hierokratischen Despotismus warf. Ähnlich wie bei Paulus fällt es keinem Wissenden schwer, zwischen der wahren inneren Religion des Augustinus und der ihm aufgezwungenen zu unterscheiden; hier ist aber, durch die Fort- entwickelung des Christentums, die Sache viel tragischer geworden, denn die Unbefangenheit und damit auch die wahre Grösse des Menschen ist verloren. Nicht frank und frei und sorglos widerspricht sich dieser Mann, sondern er ist bereits geknechtet, der Widerspruch wird ihm von fremder Hand aufgenötigt. Es handelt sich hier nicht lediglich wie bei Paulus um zwei nebeneinander laufende Weltanschauungen; auch nicht bloss darum, dass ein Drittes inzwischen hinzugekommen ist: die Mysterien, Sakramente und Ceremonien aus dem Völkerchaos; sondern Augustinus muss heute das Gegenteil von dem behaupten, was er gestern sagte: er muss es, um auf Menschen, die ihn sonst nicht verstehen würden, wirken zu können; er muss es, weil er sein selbständiges Urteil auf der Schwelle der römischen Kirche ihr zum Opfer gebracht hat; er muss es, um sich nicht irgend eine spitz- findige dialektische Sophisterei im Dispute mit angeblichen Sektierern entgehen zu lassen. Es ist ein tragischer Anblick. Niemand hatte z. B. klarer als Augustinus eingesehen, welche verhängnisvolle Folgen der gezwungene Übertritt zum Christentum für das Christentum selber mit sich führe; schon zu seiner Zeit überwogen in der Kirche (nament- lich in Italien) diejenigen Menschen, die in gar keiner innerlichen Be- ziehung zur christlichen Religion standen und die den neuen Mysterien- kult an Stelle des alten nur annahmen, weil der Staat es forderte. Der Eine, berichtet Augustinus, wird Christ, weil sein Dienstgeber es befiehlt, der Andere, weil er durch die Verwendung des Bischofs einen Prozess zu gewinnen hofft, 1) der Dritte wünscht eine Anstellung, ein Vierter erhält dadurch eine reiche Frau. Schmerzerfüllt schaut Augustinus diesem Vorgang zu, der auch thatsächlich das knochen- 1) Über die Bischöfe als Richter in Civilprozessen, siehe weiter unten.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 594. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/73>, abgerufen am 25.11.2024.