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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
Steinen zu zerschmettern. Zugleich bannte dieser dogmatische Geist
den dümmsten und widerwärtigsten Aberglauben armseliger Sklaven-
seelen zu ewigen Bestandteilen der Religion; was früher für den
"gemeinen Mann" (wie Origenes meinte) oder für die Sklaven (wie
Demosthenes spottet) gut gewesen war, daran mussten nunmehr die
Geistesfürsten um ihrer Seele Heil glauben. Ich habe schon in einem
früheren Kapitel (siehe S. 306) auf die kindischen Superstitionen eines
Augustinus aufmerksam gemacht; Paulus hätte keinen Augenblick ge-
glaubt, dass ein Mensch in einen Esel verwandelt werden kann (wir
sehen ja wie er von den Engeln spricht), Augustinus dagegen findet
es recht plausibel. Während also die höchsten religiösen Intuitionen
heruntergezogen und bis zur völligen Entartung verzerrt wurden,
erhielten zugleich längst abgethane Wahnvorstellungen primitiver
Menschen -- Zauberei, Hexenwesen u. s. w. -- ein offiziell gesichertes
Heimatsrecht in praecinctu ecclesiae.

Kein Mensch bietet uns ein so edles, doch zugleich so traurigesAugustinus.
Beispiel der Zerrissenheit, welche das also organisierte Christentum
in den Herzen verursachte, wie Augustinus. Man kann keine Schrift
von ihm aufschlagen, ohne von der Glut der Empfindung gerührt
und von dem heiligen Ernst des Gedankens gefesselt zu werden;
man kann nicht lange darin lesen, ohne es im Herzen beklagen
zu müssen, dass ein solcher Geist, auserwählt um ein Jünger des
lebendigen Christus zu sein, geschaffen wie nur Wenige, das Werk
des Paulus fortzusetzen und der wahren Religion des Apostels im
entscheidenden Augenblick zum Siege zu verhelfen, dennoch gegen
die Mächte des Völkerchaos, dem er selbst -- vaterlandslos, rassen-
los, religionslos -- entstiegen war, nicht aufzukommen vermag, so
dass er zuletzt in einer Art wahnsinniger Verzweiflung das eine
einzige Ideal erfasst: die römische Kirche als rettende, ordnende,
einigende, weltbeherrschende Macht -- koste es, was es wolle, koste
es auch das bessere Teil seiner eigenen Religion -- organisieren zu
helfen. Bedenkt man aber, wie Europa zu Beginn des 5. Jahrhunderts
aussah (Augustinus starb 430), hat man sich durch die Bekenntnisse
dieses Kirchenvaters über den gesellschaftlichen und sittlichen Zustand
der sogenannten civilisierten Menschen jener grauenhaften Zeit belehren
lassen, vergegenwärtigt man sich, dass dieser "Professor der Rhetorik" --
erzogen von seinen Eltern in der "spes litterarum" (Confessiones
II, 3), wohlbewandert im glatten Cicero und in den Subtilitäten des
Neoplatonismus -- es erleben musste, wie die rauhen Goten, truculen-

Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 38

Religion.
Steinen zu zerschmettern. Zugleich bannte dieser dogmatische Geist
den dümmsten und widerwärtigsten Aberglauben armseliger Sklaven-
seelen zu ewigen Bestandteilen der Religion; was früher für den
»gemeinen Mann« (wie Origenes meinte) oder für die Sklaven (wie
Demosthenes spottet) gut gewesen war, daran mussten nunmehr die
Geistesfürsten um ihrer Seele Heil glauben. Ich habe schon in einem
früheren Kapitel (siehe S. 306) auf die kindischen Superstitionen eines
Augustinus aufmerksam gemacht; Paulus hätte keinen Augenblick ge-
glaubt, dass ein Mensch in einen Esel verwandelt werden kann (wir
sehen ja wie er von den Engeln spricht), Augustinus dagegen findet
es recht plausibel. Während also die höchsten religiösen Intuitionen
heruntergezogen und bis zur völligen Entartung verzerrt wurden,
erhielten zugleich längst abgethane Wahnvorstellungen primitiver
Menschen — Zauberei, Hexenwesen u. s. w. — ein offiziell gesichertes
Heimatsrecht in praecinctu ecclesiae.

Kein Mensch bietet uns ein so edles, doch zugleich so traurigesAugustinus.
Beispiel der Zerrissenheit, welche das also organisierte Christentum
in den Herzen verursachte, wie Augustinus. Man kann keine Schrift
von ihm aufschlagen, ohne von der Glut der Empfindung gerührt
und von dem heiligen Ernst des Gedankens gefesselt zu werden;
man kann nicht lange darin lesen, ohne es im Herzen beklagen
zu müssen, dass ein solcher Geist, auserwählt um ein Jünger des
lebendigen Christus zu sein, geschaffen wie nur Wenige, das Werk
des Paulus fortzusetzen und der wahren Religion des Apostels im
entscheidenden Augenblick zum Siege zu verhelfen, dennoch gegen
die Mächte des Völkerchaos, dem er selbst — vaterlandslos, rassen-
los, religionslos — entstiegen war, nicht aufzukommen vermag, so
dass er zuletzt in einer Art wahnsinniger Verzweiflung das eine
einzige Ideal erfasst: die römische Kirche als rettende, ordnende,
einigende, weltbeherrschende Macht — koste es, was es wolle, koste
es auch das bessere Teil seiner eigenen Religion — organisieren zu
helfen. Bedenkt man aber, wie Europa zu Beginn des 5. Jahrhunderts
aussah (Augustinus starb 430), hat man sich durch die Bekenntnisse
dieses Kirchenvaters über den gesellschaftlichen und sittlichen Zustand
der sogenannten civilisierten Menschen jener grauenhaften Zeit belehren
lassen, vergegenwärtigt man sich, dass dieser »Professor der Rhetorik« —
erzogen von seinen Eltern in der »spes litterarum« (Confessiones
II, 3), wohlbewandert im glatten Cicero und in den Subtilitäten des
Neoplatonismus — es erleben musste, wie die rauhen Goten, truculen-

Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 38
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[593/0072] Religion. Steinen zu zerschmettern. Zugleich bannte dieser dogmatische Geist den dümmsten und widerwärtigsten Aberglauben armseliger Sklaven- seelen zu ewigen Bestandteilen der Religion; was früher für den »gemeinen Mann« (wie Origenes meinte) oder für die Sklaven (wie Demosthenes spottet) gut gewesen war, daran mussten nunmehr die Geistesfürsten um ihrer Seele Heil glauben. Ich habe schon in einem früheren Kapitel (siehe S. 306) auf die kindischen Superstitionen eines Augustinus aufmerksam gemacht; Paulus hätte keinen Augenblick ge- glaubt, dass ein Mensch in einen Esel verwandelt werden kann (wir sehen ja wie er von den Engeln spricht), Augustinus dagegen findet es recht plausibel. Während also die höchsten religiösen Intuitionen heruntergezogen und bis zur völligen Entartung verzerrt wurden, erhielten zugleich längst abgethane Wahnvorstellungen primitiver Menschen — Zauberei, Hexenwesen u. s. w. — ein offiziell gesichertes Heimatsrecht in praecinctu ecclesiae. Kein Mensch bietet uns ein so edles, doch zugleich so trauriges Beispiel der Zerrissenheit, welche das also organisierte Christentum in den Herzen verursachte, wie Augustinus. Man kann keine Schrift von ihm aufschlagen, ohne von der Glut der Empfindung gerührt und von dem heiligen Ernst des Gedankens gefesselt zu werden; man kann nicht lange darin lesen, ohne es im Herzen beklagen zu müssen, dass ein solcher Geist, auserwählt um ein Jünger des lebendigen Christus zu sein, geschaffen wie nur Wenige, das Werk des Paulus fortzusetzen und der wahren Religion des Apostels im entscheidenden Augenblick zum Siege zu verhelfen, dennoch gegen die Mächte des Völkerchaos, dem er selbst — vaterlandslos, rassen- los, religionslos — entstiegen war, nicht aufzukommen vermag, so dass er zuletzt in einer Art wahnsinniger Verzweiflung das eine einzige Ideal erfasst: die römische Kirche als rettende, ordnende, einigende, weltbeherrschende Macht — koste es, was es wolle, koste es auch das bessere Teil seiner eigenen Religion — organisieren zu helfen. Bedenkt man aber, wie Europa zu Beginn des 5. Jahrhunderts aussah (Augustinus starb 430), hat man sich durch die Bekenntnisse dieses Kirchenvaters über den gesellschaftlichen und sittlichen Zustand der sogenannten civilisierten Menschen jener grauenhaften Zeit belehren lassen, vergegenwärtigt man sich, dass dieser »Professor der Rhetorik« — erzogen von seinen Eltern in der »spes litterarum« (Confessiones II, 3), wohlbewandert im glatten Cicero und in den Subtilitäten des Neoplatonismus — es erleben musste, wie die rauhen Goten, truculen- Augustinus. Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 38

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 593. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/72>, abgerufen am 25.11.2024.