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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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also fromm jüdisch erzogen worden sein, die Atmosphäre, die den
werdenden Mann umgab, war trotzdem nicht die unverfälscht jüdische,
sondern die anregende, reichhaltige, freigeistige hellenische: ein um
so beachtenswürdigerer Umstand, als empfangene Eindrücke desto tiefer
wirken, je genialer der Mensch ist. Und so sehen wir denn Paulus
im weiteren Verlaufe seines Lebens, nach der kurzen Epoche leiden-
schaftlich verfolgter pharisäischer Irrwege, die Gesellschaft der echten
Hebräer möglichst vermeiden. Die Thatsache, dass er vierzehn Jahre
lang nach seiner Bekehrung die Stadt Jerusalem mied, obwohl er dort
die persönlichen Jünger Christi angetroffen hätte, dass er sich auch
dann nur notgedrungen und kurz dort aufhielt, dabei seinen Verkehr
möglichst einschränkend, hat eine Bibliothek von Erläuterungen und
Diskussionen veranlasst; das ganze Leben des Paulus zeigt jedoch, dass
Jerusalem und seine Einwohner und deren Denkweise ihm einfach
unerträglich zuwider waren. Seine erste That als Apostel ist die Ab-
schaffung des heiligen "Bundeszeichens" aller Hebräer. Von Anfang
an befindet er sich mit den Judenchristen im Kampfe. Wo er aposto-
lische Sendungen an ihrer Seite unternehmen soll, entzweit er sich
mit ihnen.1) Keiner seiner wenigen persönlichen Freunde ist ein un-
verfälschter palästinischer Jude: Barnabas z. B. ist, wie er selber, aus
der Diaspora und so antijüdisch gesinnt, dass er (als Vorläufer des
Marcion) den alten Bund, d. h. also die privilegierte Stellung des israeli-
tischen Volkes, leugnet; Lukas, den Paulus "den geliebten" nennt,
ist nicht Jude (Col. IV, 11--14); Titus, der einzige Busenfreund des
Paulus, "sein Geselle und Gehilfe" (II. Cor. VIII, 23), ist ein echt
hellenischer Grieche. Auch in seiner Missionsthätigkeit zieht es Paulus
einzig zu den "Heiden" und zwar namentlich überall dorthin, wo
hellenische Bildung blüht. In dieser Beziehung hat die allerneueste
Forschung wertvolle Aufklärung gebracht. Bis vor Kurzem war die
Kenntnis Kleinasiens im ersten christlichen Jahrhundert in geographischer
und wirtschaftlicher Beziehung eine sehr mangelhafte; man meinte,
Paulus habe (namentlich auf seiner ersten Reise) die uncivilisiertesten
Gegenden aufgesucht, die grossen Städte ängstlich vermieden; jetzt ist
diese Ansicht als irrig nachgewiesen worden:2) Paulus hat vielmehr

1) Siehe z. B. die beiden Episoden mit Johannes Marcus (Apostelgeschichte
XIII, 13 und XV, 38--39).
2) Namentlich durch die Werke von W. M. Ramsay: Historical Geography of
Asia Minor, The Church in the Roman Empire before A. D. 170, St. Paul the traveller
and the Roman citizen
(alle auch in deutscher Übersetzung).

Der Kampf.
also fromm jüdisch erzogen worden sein, die Atmosphäre, die den
werdenden Mann umgab, war trotzdem nicht die unverfälscht jüdische,
sondern die anregende, reichhaltige, freigeistige hellenische: ein um
so beachtenswürdigerer Umstand, als empfangene Eindrücke desto tiefer
wirken, je genialer der Mensch ist. Und so sehen wir denn Paulus
im weiteren Verlaufe seines Lebens, nach der kurzen Epoche leiden-
schaftlich verfolgter pharisäischer Irrwege, die Gesellschaft der echten
Hebräer möglichst vermeiden. Die Thatsache, dass er vierzehn Jahre
lang nach seiner Bekehrung die Stadt Jerusalem mied, obwohl er dort
die persönlichen Jünger Christi angetroffen hätte, dass er sich auch
dann nur notgedrungen und kurz dort aufhielt, dabei seinen Verkehr
möglichst einschränkend, hat eine Bibliothek von Erläuterungen und
Diskussionen veranlasst; das ganze Leben des Paulus zeigt jedoch, dass
Jerusalem und seine Einwohner und deren Denkweise ihm einfach
unerträglich zuwider waren. Seine erste That als Apostel ist die Ab-
schaffung des heiligen »Bundeszeichens« aller Hebräer. Von Anfang
an befindet er sich mit den Judenchristen im Kampfe. Wo er aposto-
lische Sendungen an ihrer Seite unternehmen soll, entzweit er sich
mit ihnen.1) Keiner seiner wenigen persönlichen Freunde ist ein un-
verfälschter palästinischer Jude: Barnabas z. B. ist, wie er selber, aus
der Diaspora und so antijüdisch gesinnt, dass er (als Vorläufer des
Marcion) den alten Bund, d. h. also die privilegierte Stellung des israeli-
tischen Volkes, leugnet; Lukas, den Paulus »den geliebten« nennt,
ist nicht Jude (Col. IV, 11—14); Titus, der einzige Busenfreund des
Paulus, »sein Geselle und Gehilfe« (II. Cor. VIII, 23), ist ein echt
hellenischer Grieche. Auch in seiner Missionsthätigkeit zieht es Paulus
einzig zu den »Heiden« und zwar namentlich überall dorthin, wo
hellenische Bildung blüht. In dieser Beziehung hat die allerneueste
Forschung wertvolle Aufklärung gebracht. Bis vor Kurzem war die
Kenntnis Kleinasiens im ersten christlichen Jahrhundert in geographischer
und wirtschaftlicher Beziehung eine sehr mangelhafte; man meinte,
Paulus habe (namentlich auf seiner ersten Reise) die uncivilisiertesten
Gegenden aufgesucht, die grossen Städte ängstlich vermieden; jetzt ist
diese Ansicht als irrig nachgewiesen worden:2) Paulus hat vielmehr

1) Siehe z. B. die beiden Episoden mit Johannes Marcus (Apostelgeschichte
XIII, 13 und XV, 38—39).
2) Namentlich durch die Werke von W. M. Ramsay: Historical Geography of
Asia Minor, The Church in the Roman Empire before A. D. 170, St. Paul the traveller
and the Roman citizen
(alle auch in deutscher Übersetzung).
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[582/0061] Der Kampf. also fromm jüdisch erzogen worden sein, die Atmosphäre, die den werdenden Mann umgab, war trotzdem nicht die unverfälscht jüdische, sondern die anregende, reichhaltige, freigeistige hellenische: ein um so beachtenswürdigerer Umstand, als empfangene Eindrücke desto tiefer wirken, je genialer der Mensch ist. Und so sehen wir denn Paulus im weiteren Verlaufe seines Lebens, nach der kurzen Epoche leiden- schaftlich verfolgter pharisäischer Irrwege, die Gesellschaft der echten Hebräer möglichst vermeiden. Die Thatsache, dass er vierzehn Jahre lang nach seiner Bekehrung die Stadt Jerusalem mied, obwohl er dort die persönlichen Jünger Christi angetroffen hätte, dass er sich auch dann nur notgedrungen und kurz dort aufhielt, dabei seinen Verkehr möglichst einschränkend, hat eine Bibliothek von Erläuterungen und Diskussionen veranlasst; das ganze Leben des Paulus zeigt jedoch, dass Jerusalem und seine Einwohner und deren Denkweise ihm einfach unerträglich zuwider waren. Seine erste That als Apostel ist die Ab- schaffung des heiligen »Bundeszeichens« aller Hebräer. Von Anfang an befindet er sich mit den Judenchristen im Kampfe. Wo er aposto- lische Sendungen an ihrer Seite unternehmen soll, entzweit er sich mit ihnen. 1) Keiner seiner wenigen persönlichen Freunde ist ein un- verfälschter palästinischer Jude: Barnabas z. B. ist, wie er selber, aus der Diaspora und so antijüdisch gesinnt, dass er (als Vorläufer des Marcion) den alten Bund, d. h. also die privilegierte Stellung des israeli- tischen Volkes, leugnet; Lukas, den Paulus »den geliebten« nennt, ist nicht Jude (Col. IV, 11—14); Titus, der einzige Busenfreund des Paulus, »sein Geselle und Gehilfe« (II. Cor. VIII, 23), ist ein echt hellenischer Grieche. Auch in seiner Missionsthätigkeit zieht es Paulus einzig zu den »Heiden« und zwar namentlich überall dorthin, wo hellenische Bildung blüht. In dieser Beziehung hat die allerneueste Forschung wertvolle Aufklärung gebracht. Bis vor Kurzem war die Kenntnis Kleinasiens im ersten christlichen Jahrhundert in geographischer und wirtschaftlicher Beziehung eine sehr mangelhafte; man meinte, Paulus habe (namentlich auf seiner ersten Reise) die uncivilisiertesten Gegenden aufgesucht, die grossen Städte ängstlich vermieden; jetzt ist diese Ansicht als irrig nachgewiesen worden: 2) Paulus hat vielmehr 1) Siehe z. B. die beiden Episoden mit Johannes Marcus (Apostelgeschichte XIII, 13 und XV, 38—39). 2) Namentlich durch die Werke von W. M. Ramsay: Historical Geography of Asia Minor, The Church in the Roman Empire before A. D. 170, St. Paul the traveller and the Roman citizen (alle auch in deutscher Übersetzung).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 582. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/61>, abgerufen am 26.11.2024.