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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Der Kampf.
sagt, ist erlebt und sprudelt frei aus dem Herzen hervor; man sieht
förmlich, wie ihm die Feder nicht rasch genug eilen kann, um dem
Gedanken nachzukommen; "nicht, dass ich es schon ergriffen habe,
ich jage ihm aber nach -- -- ich vergesse, was dahinten ist, und
strecke mich zu dem, was da vorne ist" (Phil. III, 13). Hier wird
sich Widerspruch unverhüllt neben Widerspruch hinstellen; was ver-
fängt's? wenn nur Viele an Christus den Erlöser glauben. Ganz anders
Augustinus. Keine feste Nationalreligion umfriedet seine Jugend wie
die des Paulus; er ist ein Atom unter Atomen im uferlosen Meer des
sich immer weiter auflösenden Völkerchaos. Wo er auch den Fuss
hinsetzt, überall trifft er auf Sand oder Morast; keine Heldengestalt
taucht -- wie für Paulus -- an seinem Horizonte als eine blendende
Sonne auf, sondern aus einer langweiligen Schrift des Rechtsanwalts
Cicero muss der Arme die Anregung zu seiner moralischen Erweckung
schöpfen, aus Predigten des würdigen Ambrosius die Erkenntnis der
Bedeutung des Christentums. Sein ganzes Leben ist ein mühsamer
Kampf: erst gegen sich und mit sich, bis er die verschiedenen Phasen
des Unglaubens überwunden, und, nach Erprobung von verschiedenen
Lehrmeinungen, diejenige des Ambrosius angenommen hat, sodann
gegen das, was er selber früher geglaubt und gegen die vielen Christen,
die anders dachten als er. Denn färbte zu Lebzeiten des Apostels
Paulus die lebendige Erinnerung an die Persönlichkeit Christi alle Religion,
so that dies jetzt die Superstition des Dogmas. Paulus hatte von sich
rühmen dürfen: er kämpfe nicht wie Diejenigen, die mit den Armen
in der Luft herumfechten; mit solchem Fechten brachte Augustinus
ein gut Teil seines Lebens zu. Hier greift darum der Widerspruch,
der stets bestrebt ist, sich dem eigenen Auge und dem Auge Anderer
zu verbergen, viel tiefer: er zerreisst das innerste Wesen, schüttet immer
wieder Spreu unter das Korn, und führt (in der Absicht, eine feste
Orthodoxie zu gründen) ein so inkonsequentes, lockeres, abergläubisches,
in manchen Punkten geradezu barbarisches Gebäude auf, dass wir
wohl Augustinus mehr als einem anderen werden Dank wissen müssen,
wenn eines Tages das ganze Christentum des Chaos zusammenstürzt.

Diese beiden Männer wollen wir uns nun etwas genauer an-
schauen. Und zwar wollen wir zunächst versuchen, über Paulus
einige Grundideen zu gewinnen, denn hier dürfen wir hoffen, den
Keimpunkt der folgenden Entwickelung blosszulegen.

Paulus.

Ob Paulus ein rassenreiner Jude war, bleibt, trotz aller Be-
teuerungen, sehr zweifelhaft; ich meine doch, das Zwitterwesen dieses

Der Kampf.
sagt, ist erlebt und sprudelt frei aus dem Herzen hervor; man sieht
förmlich, wie ihm die Feder nicht rasch genug eilen kann, um dem
Gedanken nachzukommen; »nicht, dass ich es schon ergriffen habe,
ich jage ihm aber nach — — ich vergesse, was dahinten ist, und
strecke mich zu dem, was da vorne ist« (Phil. III, 13). Hier wird
sich Widerspruch unverhüllt neben Widerspruch hinstellen; was ver-
fängt’s? wenn nur Viele an Christus den Erlöser glauben. Ganz anders
Augustinus. Keine feste Nationalreligion umfriedet seine Jugend wie
die des Paulus; er ist ein Atom unter Atomen im uferlosen Meer des
sich immer weiter auflösenden Völkerchaos. Wo er auch den Fuss
hinsetzt, überall trifft er auf Sand oder Morast; keine Heldengestalt
taucht — wie für Paulus — an seinem Horizonte als eine blendende
Sonne auf, sondern aus einer langweiligen Schrift des Rechtsanwalts
Cicero muss der Arme die Anregung zu seiner moralischen Erweckung
schöpfen, aus Predigten des würdigen Ambrosius die Erkenntnis der
Bedeutung des Christentums. Sein ganzes Leben ist ein mühsamer
Kampf: erst gegen sich und mit sich, bis er die verschiedenen Phasen
des Unglaubens überwunden, und, nach Erprobung von verschiedenen
Lehrmeinungen, diejenige des Ambrosius angenommen hat, sodann
gegen das, was er selber früher geglaubt und gegen die vielen Christen,
die anders dachten als er. Denn färbte zu Lebzeiten des Apostels
Paulus die lebendige Erinnerung an die Persönlichkeit Christi alle Religion,
so that dies jetzt die Superstition des Dogmas. Paulus hatte von sich
rühmen dürfen: er kämpfe nicht wie Diejenigen, die mit den Armen
in der Luft herumfechten; mit solchem Fechten brachte Augustinus
ein gut Teil seines Lebens zu. Hier greift darum der Widerspruch,
der stets bestrebt ist, sich dem eigenen Auge und dem Auge Anderer
zu verbergen, viel tiefer: er zerreisst das innerste Wesen, schüttet immer
wieder Spreu unter das Korn, und führt (in der Absicht, eine feste
Orthodoxie zu gründen) ein so inkonsequentes, lockeres, abergläubisches,
in manchen Punkten geradezu barbarisches Gebäude auf, dass wir
wohl Augustinus mehr als einem anderen werden Dank wissen müssen,
wenn eines Tages das ganze Christentum des Chaos zusammenstürzt.

Diese beiden Männer wollen wir uns nun etwas genauer an-
schauen. Und zwar wollen wir zunächst versuchen, über Paulus
einige Grundideen zu gewinnen, denn hier dürfen wir hoffen, den
Keimpunkt der folgenden Entwickelung blosszulegen.

Paulus.

Ob Paulus ein rassenreiner Jude war, bleibt, trotz aller Be-
teuerungen, sehr zweifelhaft; ich meine doch, das Zwitterwesen dieses

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[580/0059] Der Kampf. sagt, ist erlebt und sprudelt frei aus dem Herzen hervor; man sieht förmlich, wie ihm die Feder nicht rasch genug eilen kann, um dem Gedanken nachzukommen; »nicht, dass ich es schon ergriffen habe, ich jage ihm aber nach — — ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich zu dem, was da vorne ist« (Phil. III, 13). Hier wird sich Widerspruch unverhüllt neben Widerspruch hinstellen; was ver- fängt’s? wenn nur Viele an Christus den Erlöser glauben. Ganz anders Augustinus. Keine feste Nationalreligion umfriedet seine Jugend wie die des Paulus; er ist ein Atom unter Atomen im uferlosen Meer des sich immer weiter auflösenden Völkerchaos. Wo er auch den Fuss hinsetzt, überall trifft er auf Sand oder Morast; keine Heldengestalt taucht — wie für Paulus — an seinem Horizonte als eine blendende Sonne auf, sondern aus einer langweiligen Schrift des Rechtsanwalts Cicero muss der Arme die Anregung zu seiner moralischen Erweckung schöpfen, aus Predigten des würdigen Ambrosius die Erkenntnis der Bedeutung des Christentums. Sein ganzes Leben ist ein mühsamer Kampf: erst gegen sich und mit sich, bis er die verschiedenen Phasen des Unglaubens überwunden, und, nach Erprobung von verschiedenen Lehrmeinungen, diejenige des Ambrosius angenommen hat, sodann gegen das, was er selber früher geglaubt und gegen die vielen Christen, die anders dachten als er. Denn färbte zu Lebzeiten des Apostels Paulus die lebendige Erinnerung an die Persönlichkeit Christi alle Religion, so that dies jetzt die Superstition des Dogmas. Paulus hatte von sich rühmen dürfen: er kämpfe nicht wie Diejenigen, die mit den Armen in der Luft herumfechten; mit solchem Fechten brachte Augustinus ein gut Teil seines Lebens zu. Hier greift darum der Widerspruch, der stets bestrebt ist, sich dem eigenen Auge und dem Auge Anderer zu verbergen, viel tiefer: er zerreisst das innerste Wesen, schüttet immer wieder Spreu unter das Korn, und führt (in der Absicht, eine feste Orthodoxie zu gründen) ein so inkonsequentes, lockeres, abergläubisches, in manchen Punkten geradezu barbarisches Gebäude auf, dass wir wohl Augustinus mehr als einem anderen werden Dank wissen müssen, wenn eines Tages das ganze Christentum des Chaos zusammenstürzt. Diese beiden Männer wollen wir uns nun etwas genauer an- schauen. Und zwar wollen wir zunächst versuchen, über Paulus einige Grundideen zu gewinnen, denn hier dürfen wir hoffen, den Keimpunkt der folgenden Entwickelung blosszulegen. Ob Paulus ein rassenreiner Jude war, bleibt, trotz aller Be- teuerungen, sehr zweifelhaft; ich meine doch, das Zwitterwesen dieses

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 580. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/59>, abgerufen am 26.11.2024.