Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Kampf.
ständnis ausser einem pragmatischen, während das reinmenschliche auf
ein Minimum hinabsinkt. Dagegen hat in unserem Jahrhundert, in Folge
der fast gänzlichen Trennung von Staat und Religion in den meisten
Ländern (was durch die Beibehaltung einer oder mehrerer Staatskirchen
in keiner Weise berührt wird) und in Folge der veränderten, nun-
mehr rein moralischen Stellung des äusserlich machtlos gewordenen
Papsttums, eine merkliche Belebung des religiösen Interesses und aller
Formen sowohl echter wie abergläubischer Religiosität stattgefunden.
Ein Symptom dieser Gährung ist die reiche Sektenbildung unter uns.
In England z. B. besitzen weit über hundert verschieden benamste christ-
liche Verbände behördlich protokollierte Kirchen, resp. Versammlungs-
lokale für den gemeinsamen Gottesdienst. Auffallend ist hierbei, dass
auch die Katholiken in England fünf verschiedene Kirchen bilden, von
denen nur die eine streng orthodox römisch ist. Unter den Juden
ist das religiöse Leben auch sehr rege geworden; drei verschiedene
Sekten haben in London Bethäuser und ausserdem giebt es daselbst
zwei verschiedene Gruppen von Judenchristen. Das erinnert an die
Jahrhunderte vor der religiösen Entartung: am Ende des zweiten Säculums
z. B. berichtet Irenäus über 32 Sekten, Epiphanius, zwei Jahrhunderte
später, über 80. Darum ist die Hoffnung nicht unberechtigt, dass wir
den Seelenkampf echter Christen um so besser verstehen werden, je
weiter wir zurückgreifen.

Paulus und
Augustinus.

Die lebhafteste Vorstellung des dem Christentum von Beginn an
eigenen Zwitterwesens erlangen wir zunächst, wenn wir es in ein-
zelnen ausserordentlichen Männern, z. B. in Paulus und Augustinus,
am Werke sehen. Bei Paulus alles viel grösser und klarer und helden-
hafter, weil spontan und frei; Augustinus aber dennoch allen Geschlechtern
sympathisch, verehrungswürdig, zugleich Mitleid weckend und Bewunde-
rung gebietend. Wollte man Augustinus einzig mit dem siegreichen
Apostel -- vielleicht dem grössten Manne des Christentums -- in Parallele
stellen, er könnte keinen Augenblick bestehen; doch mit seiner eigenen
Umgebung verglichen, tritt seine Bedeutung leuchtend hervor. Augu-
stinus ist das rechte Gegenstück zu jenem anderen Kinde des Chaos,
Lucian, den ich im vierten Kapitel als Beispiel heranzog: dort die
Frivolität einer dem Verfall entgegeneilenden Civilisation, hier der
Schmerzensblick, der mitten aus den Trümmern zu Gott hinaufschaut;
dort Geld und Ruhm das Lebensziel, Spott und Kurzweil die Mittel,
hier Weisheit und Tugend, Askese und feierlich ernstes Arbeiten;
dort Herunterreissen glorreicher Ruinen, hier das mühsame Aufzimmern

Der Kampf.
ständnis ausser einem pragmatischen, während das reinmenschliche auf
ein Minimum hinabsinkt. Dagegen hat in unserem Jahrhundert, in Folge
der fast gänzlichen Trennung von Staat und Religion in den meisten
Ländern (was durch die Beibehaltung einer oder mehrerer Staatskirchen
in keiner Weise berührt wird) und in Folge der veränderten, nun-
mehr rein moralischen Stellung des äusserlich machtlos gewordenen
Papsttums, eine merkliche Belebung des religiösen Interesses und aller
Formen sowohl echter wie abergläubischer Religiosität stattgefunden.
Ein Symptom dieser Gährung ist die reiche Sektenbildung unter uns.
In England z. B. besitzen weit über hundert verschieden benamste christ-
liche Verbände behördlich protokollierte Kirchen, resp. Versammlungs-
lokale für den gemeinsamen Gottesdienst. Auffallend ist hierbei, dass
auch die Katholiken in England fünf verschiedene Kirchen bilden, von
denen nur die eine streng orthodox römisch ist. Unter den Juden
ist das religiöse Leben auch sehr rege geworden; drei verschiedene
Sekten haben in London Bethäuser und ausserdem giebt es daselbst
zwei verschiedene Gruppen von Judenchristen. Das erinnert an die
Jahrhunderte vor der religiösen Entartung: am Ende des zweiten Säculums
z. B. berichtet Irenäus über 32 Sekten, Epiphanius, zwei Jahrhunderte
später, über 80. Darum ist die Hoffnung nicht unberechtigt, dass wir
den Seelenkampf echter Christen um so besser verstehen werden, je
weiter wir zurückgreifen.

Paulus und
Augustinus.

Die lebhafteste Vorstellung des dem Christentum von Beginn an
eigenen Zwitterwesens erlangen wir zunächst, wenn wir es in ein-
zelnen ausserordentlichen Männern, z. B. in Paulus und Augustinus,
am Werke sehen. Bei Paulus alles viel grösser und klarer und helden-
hafter, weil spontan und frei; Augustinus aber dennoch allen Geschlechtern
sympathisch, verehrungswürdig, zugleich Mitleid weckend und Bewunde-
rung gebietend. Wollte man Augustinus einzig mit dem siegreichen
Apostel — vielleicht dem grössten Manne des Christentums — in Parallele
stellen, er könnte keinen Augenblick bestehen; doch mit seiner eigenen
Umgebung verglichen, tritt seine Bedeutung leuchtend hervor. Augu-
stinus ist das rechte Gegenstück zu jenem anderen Kinde des Chaos,
Lucian, den ich im vierten Kapitel als Beispiel heranzog: dort die
Frivolität einer dem Verfall entgegeneilenden Civilisation, hier der
Schmerzensblick, der mitten aus den Trümmern zu Gott hinaufschaut;
dort Geld und Ruhm das Lebensziel, Spott und Kurzweil die Mittel,
hier Weisheit und Tugend, Askese und feierlich ernstes Arbeiten;
dort Herunterreissen glorreicher Ruinen, hier das mühsame Aufzimmern

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0057" n="578"/><fw place="top" type="header">Der Kampf.</fw><lb/>
ständnis ausser einem pragmatischen, während das reinmenschliche auf<lb/>
ein Minimum hinabsinkt. Dagegen hat in unserem Jahrhundert, in Folge<lb/>
der fast gänzlichen Trennung von Staat und Religion in den meisten<lb/>
Ländern (was durch die Beibehaltung einer oder mehrerer Staatskirchen<lb/>
in keiner Weise berührt wird) und in Folge der veränderten, nun-<lb/>
mehr rein moralischen Stellung des äusserlich machtlos gewordenen<lb/>
Papsttums, eine merkliche Belebung des religiösen Interesses und aller<lb/>
Formen sowohl echter wie abergläubischer Religiosität stattgefunden.<lb/>
Ein Symptom dieser Gährung ist die reiche Sektenbildung unter uns.<lb/>
In England z. B. besitzen weit über hundert verschieden benamste christ-<lb/>
liche Verbände behördlich protokollierte Kirchen, resp. Versammlungs-<lb/>
lokale für den gemeinsamen Gottesdienst. Auffallend ist hierbei, dass<lb/>
auch die Katholiken in England fünf verschiedene Kirchen bilden, von<lb/>
denen nur die eine streng orthodox römisch ist. Unter den Juden<lb/>
ist das religiöse Leben auch sehr rege geworden; drei verschiedene<lb/>
Sekten haben in London Bethäuser und ausserdem giebt es daselbst<lb/>
zwei verschiedene Gruppen von Judenchristen. Das erinnert an die<lb/>
Jahrhunderte vor der religiösen Entartung: am Ende des zweiten Säculums<lb/>
z. B. berichtet Irenäus über 32 Sekten, Epiphanius, zwei Jahrhunderte<lb/>
später, über 80. Darum ist die Hoffnung nicht unberechtigt, dass wir<lb/>
den Seelenkampf echter Christen um so besser verstehen werden, je<lb/>
weiter wir zurückgreifen.</p><lb/>
        <note place="left">Paulus und<lb/>
Augustinus.</note>
        <p>Die lebhafteste Vorstellung des dem Christentum von Beginn an<lb/>
eigenen Zwitterwesens erlangen wir zunächst, wenn wir es in ein-<lb/>
zelnen ausserordentlichen Männern, z. B. in Paulus und Augustinus,<lb/>
am Werke sehen. Bei Paulus alles viel grösser und klarer und helden-<lb/>
hafter, weil spontan und frei; Augustinus aber dennoch allen Geschlechtern<lb/>
sympathisch, verehrungswürdig, zugleich Mitleid weckend und Bewunde-<lb/>
rung gebietend. Wollte man Augustinus einzig mit dem siegreichen<lb/>
Apostel &#x2014; vielleicht dem grössten Manne des Christentums &#x2014; in Parallele<lb/>
stellen, er könnte keinen Augenblick bestehen; doch mit seiner eigenen<lb/>
Umgebung verglichen, tritt seine Bedeutung leuchtend hervor. Augu-<lb/>
stinus ist das rechte Gegenstück zu jenem anderen Kinde des Chaos,<lb/>
Lucian, den ich im vierten Kapitel als Beispiel heranzog: dort die<lb/>
Frivolität einer dem Verfall entgegeneilenden Civilisation, hier der<lb/>
Schmerzensblick, der mitten aus den Trümmern zu Gott hinaufschaut;<lb/>
dort Geld und Ruhm das Lebensziel, Spott und Kurzweil die Mittel,<lb/>
hier Weisheit und Tugend, Askese und feierlich ernstes Arbeiten;<lb/>
dort Herunterreissen glorreicher Ruinen, hier das mühsame Aufzimmern<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[578/0057] Der Kampf. ständnis ausser einem pragmatischen, während das reinmenschliche auf ein Minimum hinabsinkt. Dagegen hat in unserem Jahrhundert, in Folge der fast gänzlichen Trennung von Staat und Religion in den meisten Ländern (was durch die Beibehaltung einer oder mehrerer Staatskirchen in keiner Weise berührt wird) und in Folge der veränderten, nun- mehr rein moralischen Stellung des äusserlich machtlos gewordenen Papsttums, eine merkliche Belebung des religiösen Interesses und aller Formen sowohl echter wie abergläubischer Religiosität stattgefunden. Ein Symptom dieser Gährung ist die reiche Sektenbildung unter uns. In England z. B. besitzen weit über hundert verschieden benamste christ- liche Verbände behördlich protokollierte Kirchen, resp. Versammlungs- lokale für den gemeinsamen Gottesdienst. Auffallend ist hierbei, dass auch die Katholiken in England fünf verschiedene Kirchen bilden, von denen nur die eine streng orthodox römisch ist. Unter den Juden ist das religiöse Leben auch sehr rege geworden; drei verschiedene Sekten haben in London Bethäuser und ausserdem giebt es daselbst zwei verschiedene Gruppen von Judenchristen. Das erinnert an die Jahrhunderte vor der religiösen Entartung: am Ende des zweiten Säculums z. B. berichtet Irenäus über 32 Sekten, Epiphanius, zwei Jahrhunderte später, über 80. Darum ist die Hoffnung nicht unberechtigt, dass wir den Seelenkampf echter Christen um so besser verstehen werden, je weiter wir zurückgreifen. Die lebhafteste Vorstellung des dem Christentum von Beginn an eigenen Zwitterwesens erlangen wir zunächst, wenn wir es in ein- zelnen ausserordentlichen Männern, z. B. in Paulus und Augustinus, am Werke sehen. Bei Paulus alles viel grösser und klarer und helden- hafter, weil spontan und frei; Augustinus aber dennoch allen Geschlechtern sympathisch, verehrungswürdig, zugleich Mitleid weckend und Bewunde- rung gebietend. Wollte man Augustinus einzig mit dem siegreichen Apostel — vielleicht dem grössten Manne des Christentums — in Parallele stellen, er könnte keinen Augenblick bestehen; doch mit seiner eigenen Umgebung verglichen, tritt seine Bedeutung leuchtend hervor. Augu- stinus ist das rechte Gegenstück zu jenem anderen Kinde des Chaos, Lucian, den ich im vierten Kapitel als Beispiel heranzog: dort die Frivolität einer dem Verfall entgegeneilenden Civilisation, hier der Schmerzensblick, der mitten aus den Trümmern zu Gott hinaufschaut; dort Geld und Ruhm das Lebensziel, Spott und Kurzweil die Mittel, hier Weisheit und Tugend, Askese und feierlich ernstes Arbeiten; dort Herunterreissen glorreicher Ruinen, hier das mühsame Aufzimmern

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/57
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 578. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/57>, abgerufen am 26.11.2024.