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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Kunst.
Dass diese Geistesverfassung eine vortreffliche war für künstlerisches
Leben: wer möchte es leugnen, wo die Thatsachen so beredt sprechen?
Doch sehen wir diese hellenische Kunst aus der gesamten Geistesanlage
dieses einen besonderen Menschenstammes hervorwachsen; was soll es
nun für einen Sinn haben, wenn man uns, deren Geistesanlage offen-
bar weit von jener abweicht, dennoch hellenische Kunstprinzipien als
Norm und Ideal vorhält? Soll denn unsere Kunst um jeden Preis eine
"künstliche" sein, nicht eine organische? eine gemachte, nicht eine sich
selbst machende, das heisst, lebende? Sollen wir nicht das Recht haben,
Goethe's Mahnung zu folgen, in der aussermenschlichen Natur zu
fussen, in die übermenschliche Natur hinaufzustreben -- beides den
Hellenen verschlossene Gebiete? Sollen wir desselben Goethe's Wort
unbeachtet lassen: "Wir können nicht sehen wie die Griechen und
werden niemals wie sie dichten und bilden."

Die Geschichte unserer Kunst ist nun zum grossen Teil ein
Kampf: ein Kampf zwischen unserer eigenen, angeborenen Anlage
und der uns aufgezwungenen fremden. Man wird ihm auf Schritt
und Tritt begegnen -- von jenem Bamberger Meister an bis zu
Goethe. Bisweilen ist es eine Schule, die eine andere bekämpft;
häufig wird der Kampf in der Brust des einzelnen Künstlers ausge-
fochten. Er setzte sich durch unser ganzes Jahrhundert fort.

Doch giebt es noch einen anderen Kampf, und zwar ist dieserDer
innere Kampf

ein ungeteilt segensvoller, der die Entwickelung unserer Kunst be-
gleitet und gestaltet. Um ihn zu charakterisieren, wird uns Goethe's
vorhin angeführte Wort gute Dienste leisten: unsere Kunstwerke sollten
"natürlich und zugleich übernatürlich" sein. Beides zu treffen -- das
Natürliche und das Übernatürliche zugleich -- ist nicht Jedermanns Sache.
Auch stellt sich das Problem sehr verschieden je nach der Kunstart.
Um uns klar darüber zu werden, können wir jene beiden Ausdrücke,
"natürlich" und "übernatürlich", die eigentlich beide zu Kunst nicht
recht gut passen, durch naturalistisch und musikalisch wiedergeben.
Der Gegensatz des Natürlichen ist das Künstliche, und da kommen
wir nicht weiter; dagegen ist der Gegensatz des Naturalistischen das
Idealistische, und das hellt gleich Alles auf. Der hellenische Künstler
gestaltete nach der menschlichen Idee der Dinge, wir verlangen da-
gegen das Naturgetreue, d. h. dasjenige Gestaltungsprinzip, welches
die selbsteigene Individualität der Dinge erfasst. Was andererseits das
von Goethe erforderte Übernatürliche anbetrifft, so ist darauf zu be-
merken, dass unter allen Künsten einzig die Musik unmittelbar --

Kunst.
Dass diese Geistesverfassung eine vortreffliche war für künstlerisches
Leben: wer möchte es leugnen, wo die Thatsachen so beredt sprechen?
Doch sehen wir diese hellenische Kunst aus der gesamten Geistesanlage
dieses einen besonderen Menschenstammes hervorwachsen; was soll es
nun für einen Sinn haben, wenn man uns, deren Geistesanlage offen-
bar weit von jener abweicht, dennoch hellenische Kunstprinzipien als
Norm und Ideal vorhält? Soll denn unsere Kunst um jeden Preis eine
»künstliche« sein, nicht eine organische? eine gemachte, nicht eine sich
selbst machende, das heisst, lebende? Sollen wir nicht das Recht haben,
Goethe’s Mahnung zu folgen, in der aussermenschlichen Natur zu
fussen, in die übermenschliche Natur hinaufzustreben — beides den
Hellenen verschlossene Gebiete? Sollen wir desselben Goethe’s Wort
unbeachtet lassen: »Wir können nicht sehen wie die Griechen und
werden niemals wie sie dichten und bilden.«

Die Geschichte unserer Kunst ist nun zum grossen Teil ein
Kampf: ein Kampf zwischen unserer eigenen, angeborenen Anlage
und der uns aufgezwungenen fremden. Man wird ihm auf Schritt
und Tritt begegnen — von jenem Bamberger Meister an bis zu
Goethe. Bisweilen ist es eine Schule, die eine andere bekämpft;
häufig wird der Kampf in der Brust des einzelnen Künstlers ausge-
fochten. Er setzte sich durch unser ganzes Jahrhundert fort.

Doch giebt es noch einen anderen Kampf, und zwar ist dieserDer
innere Kampf

ein ungeteilt segensvoller, der die Entwickelung unserer Kunst be-
gleitet und gestaltet. Um ihn zu charakterisieren, wird uns Goethe’s
vorhin angeführte Wort gute Dienste leisten: unsere Kunstwerke sollten
»natürlich und zugleich übernatürlich« sein. Beides zu treffen — das
Natürliche und das Übernatürliche zugleich — ist nicht Jedermanns Sache.
Auch stellt sich das Problem sehr verschieden je nach der Kunstart.
Um uns klar darüber zu werden, können wir jene beiden Ausdrücke,
»natürlich« und »übernatürlich«, die eigentlich beide zu Kunst nicht
recht gut passen, durch naturalistisch und musikalisch wiedergeben.
Der Gegensatz des Natürlichen ist das Künstliche, und da kommen
wir nicht weiter; dagegen ist der Gegensatz des Naturalistischen das
Idealistische, und das hellt gleich Alles auf. Der hellenische Künstler
gestaltete nach der menschlichen Idee der Dinge, wir verlangen da-
gegen das Naturgetreue, d. h. dasjenige Gestaltungsprinzip, welches
die selbsteigene Individualität der Dinge erfasst. Was andererseits das
von Goethe erforderte Übernatürliche anbetrifft, so ist darauf zu be-
merken, dass unter allen Künsten einzig die Musik unmittelbar —

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[997/0476] Kunst. Dass diese Geistesverfassung eine vortreffliche war für künstlerisches Leben: wer möchte es leugnen, wo die Thatsachen so beredt sprechen? Doch sehen wir diese hellenische Kunst aus der gesamten Geistesanlage dieses einen besonderen Menschenstammes hervorwachsen; was soll es nun für einen Sinn haben, wenn man uns, deren Geistesanlage offen- bar weit von jener abweicht, dennoch hellenische Kunstprinzipien als Norm und Ideal vorhält? Soll denn unsere Kunst um jeden Preis eine »künstliche« sein, nicht eine organische? eine gemachte, nicht eine sich selbst machende, das heisst, lebende? Sollen wir nicht das Recht haben, Goethe’s Mahnung zu folgen, in der aussermenschlichen Natur zu fussen, in die übermenschliche Natur hinaufzustreben — beides den Hellenen verschlossene Gebiete? Sollen wir desselben Goethe’s Wort unbeachtet lassen: »Wir können nicht sehen wie die Griechen und werden niemals wie sie dichten und bilden.« Die Geschichte unserer Kunst ist nun zum grossen Teil ein Kampf: ein Kampf zwischen unserer eigenen, angeborenen Anlage und der uns aufgezwungenen fremden. Man wird ihm auf Schritt und Tritt begegnen — von jenem Bamberger Meister an bis zu Goethe. Bisweilen ist es eine Schule, die eine andere bekämpft; häufig wird der Kampf in der Brust des einzelnen Künstlers ausge- fochten. Er setzte sich durch unser ganzes Jahrhundert fort. Doch giebt es noch einen anderen Kampf, und zwar ist dieser ein ungeteilt segensvoller, der die Entwickelung unserer Kunst be- gleitet und gestaltet. Um ihn zu charakterisieren, wird uns Goethe’s vorhin angeführte Wort gute Dienste leisten: unsere Kunstwerke sollten »natürlich und zugleich übernatürlich« sein. Beides zu treffen — das Natürliche und das Übernatürliche zugleich — ist nicht Jedermanns Sache. Auch stellt sich das Problem sehr verschieden je nach der Kunstart. Um uns klar darüber zu werden, können wir jene beiden Ausdrücke, »natürlich« und »übernatürlich«, die eigentlich beide zu Kunst nicht recht gut passen, durch naturalistisch und musikalisch wiedergeben. Der Gegensatz des Natürlichen ist das Künstliche, und da kommen wir nicht weiter; dagegen ist der Gegensatz des Naturalistischen das Idealistische, und das hellt gleich Alles auf. Der hellenische Künstler gestaltete nach der menschlichen Idee der Dinge, wir verlangen da- gegen das Naturgetreue, d. h. dasjenige Gestaltungsprinzip, welches die selbsteigene Individualität der Dinge erfasst. Was andererseits das von Goethe erforderte Übernatürliche anbetrifft, so ist darauf zu be- merken, dass unter allen Künsten einzig die Musik unmittelbar — Der innere Kampf

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 997. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/476>, abgerufen am 22.11.2024.