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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
das erste lautet: bleib dir selber treu! (S. 508). Darum steht Rem-
brandt so hoch für uns Germanen und wird für lange hinaus den
Markstein bilden, an dem wir erkennen, ob die bildende Kunst auf
unserem echten, rechten Wege weiterschreitet oder in fremde Länder
sich verirrt. Wogegen jede klassische Reaktion, wie die am Schlusse
des vorigen Jahrhunderts so gewaltthätig ins Werk gesetzte, eine Ver-
irrung ist und heillose Verwirrung schafft.

Der Kampf um
die Eigenart.

Wer kann, wenn er einerseits auf Goethe's theoretische Lehren
bezüglich der bildenden Kunst, andererseits auf Goethe's eigenes Lebens-
werk schaut, zweifeln, wo die Wahrheit ist? Nie wurde ein so un-
hellenisches Werk geschrieben wie Faust; müsste hellenische Kunst
unser Ideal sein, so bliebe uns nur übrig zu bekennen: Erfindung,
Ausführung, Alles ist an dieser Dichtung ein Greuel. Und man gehe
nicht achtlos an der fortschreitenden Bewegung innerhalb dieses mäch-
tigen Werkes vorbei: denn -- um das berühmte schale Stichwort
(nicht ohne die gebührende Verachtung) zu gebrauchen -- "olympisch"
wäre der erste Teil im Vergleich zum zweiten zu nennen. Faust,
Helena, Euphorion -- und als Seitenstück, griechischer Klassizismus!
Das homerische Gelächter, das uns bei dem Vergleich erfassen muss,
ist das einzige "Griechische" an der Sache. Auch der Sümpfe-trocken-
legende Held hätte allenfalls den Römern, doch nimmermehr den
Hellenen gefallen. Ist unsere Poesie aber -- Dante, Shakespeare,
Goethe, Josquin, Bach, Beethoven -- bis ins Mark der Knochen un-
griechisch, was soll es denn heissen, wenn man unserer bildenden
Kunst Ideale vorhält und Gesetze vorschreibt, jener uns fremden Poesie
entlehnt? Ist nicht die Poesie der gebärende Mutterschoss jeglicher
Kunst? Soll unsere bildende Kunst nicht uns selber angehören, sondern
ewig als hinkender Bankert ungeliebt und unbeachtet sich hinschleppen?
Hier liegt ein verhängnisvoller Irrtum der so vielfach verdienten Hu-
manisten zu Grunde: sie wollten uns aus römisch-kirchlicher Be-
schränkung befreien und wiesen auf das freie, schöpferische Hellenen-
tum hin; doch bald stand die Altertumswissenschaft da und wir waren
aus einem Dogma in das andere gefallen. Welche eigentümliche Be-
schränktheit dieser verderblichen Lehre eines angeblichen Klassizismus
zu Grunde liegt, sieht man an dem Beispiel des grossen Winckelmann,
von dem Goethe berichtet, er habe nicht bloss kein Verständnis für
die Poesie gehabt, sondern geradezu eine "Abneigung" gegen sie, auch
gegen die griechische; selbst Homer und Aeschylus waren ihm ledig-
lich als die unentbehrlichen Kommentatoren zu seinen geliebten Statuen

Die Entstehung einer neuen Welt.
das erste lautet: bleib dir selber treu! (S. 508). Darum steht Rem-
brandt so hoch für uns Germanen und wird für lange hinaus den
Markstein bilden, an dem wir erkennen, ob die bildende Kunst auf
unserem echten, rechten Wege weiterschreitet oder in fremde Länder
sich verirrt. Wogegen jede klassische Reaktion, wie die am Schlusse
des vorigen Jahrhunderts so gewaltthätig ins Werk gesetzte, eine Ver-
irrung ist und heillose Verwirrung schafft.

Der Kampf um
die Eigenart.

Wer kann, wenn er einerseits auf Goethe’s theoretische Lehren
bezüglich der bildenden Kunst, andererseits auf Goethe’s eigenes Lebens-
werk schaut, zweifeln, wo die Wahrheit ist? Nie wurde ein so un-
hellenisches Werk geschrieben wie Faust; müsste hellenische Kunst
unser Ideal sein, so bliebe uns nur übrig zu bekennen: Erfindung,
Ausführung, Alles ist an dieser Dichtung ein Greuel. Und man gehe
nicht achtlos an der fortschreitenden Bewegung innerhalb dieses mäch-
tigen Werkes vorbei: denn — um das berühmte schale Stichwort
(nicht ohne die gebührende Verachtung) zu gebrauchen — »olympisch«
wäre der erste Teil im Vergleich zum zweiten zu nennen. Faust,
Helena, Euphorion — und als Seitenstück, griechischer Klassizismus!
Das homerische Gelächter, das uns bei dem Vergleich erfassen muss,
ist das einzige »Griechische« an der Sache. Auch der Sümpfe-trocken-
legende Held hätte allenfalls den Römern, doch nimmermehr den
Hellenen gefallen. Ist unsere Poesie aber — Dante, Shakespeare,
Goethe, Josquin, Bach, Beethoven — bis ins Mark der Knochen un-
griechisch, was soll es denn heissen, wenn man unserer bildenden
Kunst Ideale vorhält und Gesetze vorschreibt, jener uns fremden Poesie
entlehnt? Ist nicht die Poesie der gebärende Mutterschoss jeglicher
Kunst? Soll unsere bildende Kunst nicht uns selber angehören, sondern
ewig als hinkender Bankert ungeliebt und unbeachtet sich hinschleppen?
Hier liegt ein verhängnisvoller Irrtum der so vielfach verdienten Hu-
manisten zu Grunde: sie wollten uns aus römisch-kirchlicher Be-
schränkung befreien und wiesen auf das freie, schöpferische Hellenen-
tum hin; doch bald stand die Altertumswissenschaft da und wir waren
aus einem Dogma in das andere gefallen. Welche eigentümliche Be-
schränktheit dieser verderblichen Lehre eines angeblichen Klassizismus
zu Grunde liegt, sieht man an dem Beispiel des grossen Winckelmann,
von dem Goethe berichtet, er habe nicht bloss kein Verständnis für
die Poesie gehabt, sondern geradezu eine »Abneigung« gegen sie, auch
gegen die griechische; selbst Homer und Aeschylus waren ihm ledig-
lich als die unentbehrlichen Kommentatoren zu seinen geliebten Statuen

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[994/0473] Die Entstehung einer neuen Welt. das erste lautet: bleib dir selber treu! (S. 508). Darum steht Rem- brandt so hoch für uns Germanen und wird für lange hinaus den Markstein bilden, an dem wir erkennen, ob die bildende Kunst auf unserem echten, rechten Wege weiterschreitet oder in fremde Länder sich verirrt. Wogegen jede klassische Reaktion, wie die am Schlusse des vorigen Jahrhunderts so gewaltthätig ins Werk gesetzte, eine Ver- irrung ist und heillose Verwirrung schafft. Wer kann, wenn er einerseits auf Goethe’s theoretische Lehren bezüglich der bildenden Kunst, andererseits auf Goethe’s eigenes Lebens- werk schaut, zweifeln, wo die Wahrheit ist? Nie wurde ein so un- hellenisches Werk geschrieben wie Faust; müsste hellenische Kunst unser Ideal sein, so bliebe uns nur übrig zu bekennen: Erfindung, Ausführung, Alles ist an dieser Dichtung ein Greuel. Und man gehe nicht achtlos an der fortschreitenden Bewegung innerhalb dieses mäch- tigen Werkes vorbei: denn — um das berühmte schale Stichwort (nicht ohne die gebührende Verachtung) zu gebrauchen — »olympisch« wäre der erste Teil im Vergleich zum zweiten zu nennen. Faust, Helena, Euphorion — und als Seitenstück, griechischer Klassizismus! Das homerische Gelächter, das uns bei dem Vergleich erfassen muss, ist das einzige »Griechische« an der Sache. Auch der Sümpfe-trocken- legende Held hätte allenfalls den Römern, doch nimmermehr den Hellenen gefallen. Ist unsere Poesie aber — Dante, Shakespeare, Goethe, Josquin, Bach, Beethoven — bis ins Mark der Knochen un- griechisch, was soll es denn heissen, wenn man unserer bildenden Kunst Ideale vorhält und Gesetze vorschreibt, jener uns fremden Poesie entlehnt? Ist nicht die Poesie der gebärende Mutterschoss jeglicher Kunst? Soll unsere bildende Kunst nicht uns selber angehören, sondern ewig als hinkender Bankert ungeliebt und unbeachtet sich hinschleppen? Hier liegt ein verhängnisvoller Irrtum der so vielfach verdienten Hu- manisten zu Grunde: sie wollten uns aus römisch-kirchlicher Be- schränkung befreien und wiesen auf das freie, schöpferische Hellenen- tum hin; doch bald stand die Altertumswissenschaft da und wir waren aus einem Dogma in das andere gefallen. Welche eigentümliche Be- schränktheit dieser verderblichen Lehre eines angeblichen Klassizismus zu Grunde liegt, sieht man an dem Beispiel des grossen Winckelmann, von dem Goethe berichtet, er habe nicht bloss kein Verständnis für die Poesie gehabt, sondern geradezu eine »Abneigung« gegen sie, auch gegen die griechische; selbst Homer und Aeschylus waren ihm ledig- lich als die unentbehrlichen Kommentatoren zu seinen geliebten Statuen

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 994. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/473>, abgerufen am 22.11.2024.