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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Kunst.
Beobachten, geduldiges Befragen; wir fanden auch die Erkenntnis,
dass einzig die Natur Denken und Träumen, Wissen und Phantasie
speist und grosszieht. Wie sollte eine so ausgesprochene Anlage, die
sich bei keiner Menschenrasse der Vergangenheit oder Gegenwart
wiederfindet, ohne Einfluss auf die Kunst bleiben? Nein, wie sehr
auch manche Erscheinung geeignet sein mag, uns irrezuführen: unsere
Kunst ist von Hause aus naturalistisch, und wo auch immer wir sie
in Vergangenheit oder Gegenwart sich resolut zur Natur wenden sehen,
da können wir sicher sein, dass sie den rechten Weg geht.

Dass ich mit dieser Behauptung vielfachen Widerspruch erregen
werde, weiss ich; die Abscheu vor dem Naturalismus in der Kunst
wird uns schon von unseren Ammen eingeflösst, zugleich die Ehr-
furcht vor einem angeblichen Klassizismus; doch werde ich mich nicht
verteidigen, und zwar nicht allein, weil mir der Raum dazu fehlt, sondern
weil die Thatsachen zu überzeugend für sich sprechen, als dass sie meiner
Erläuterung bedürften. Ohne mich also auf Polemik einzulassen, will
ich zum Schluss nur noch einige von diesen Thatsachen von dem
besonderen Standpunkt dieses Werkes aus beleuchten und ihre Be-
deutung für den Zusammenhang des Ganzen zeigen.

Wie zeitig ein herrlich gesunder, kräftiger Naturalismus in der
italienischen Bildhauerei Platz griff, prägt sich uns Laien schon durch
den einen Umstand ein, dass er -- trotzdem gerade in Italien und
gerade in diesem Zweige der Kunst die Antike lähmend auf unsere
eigene Art wirken musste -- bereits zu Beginn des 15. Jahrhunderts
in Donatello einen mächtigen, überzeugenden Ausdruck gewann, den
keine spätere, künstlich gezüchtete Richtung hat wegwischen können.
Wer die Propheten und Könige auf dem Campanile zu Florenz, wer
jene unvergessliche Büste des Niccolo da Uzzano gesehen hat, weiss,
was unsere Kunst wird können, und dass sie andere Wege zu wandeln
hat als die hellenische.1) Die Malerei wendet sich (wie ich das schon

1) Hier wie überall in diesem Kapitel bin ich gezwungen, mich auf einzelne,
allbekannte Namen zu beschränken, die uns bei der Übersicht unserer Geschichte
als Leitsterne dienen können, doch zeigt gerade ein sorgfältigeres Studium der
Kunstgeschichte, wie es heute mit so viel Erfolg gepflegt wird, dass kein Genie
wie ein Pilz über Nacht hervorschiesst. Jene Macht Donatello's, die gewisser-
massen wie eine Elementargewalt wirkt, wurzelt in hunderten und tausenden von
redlichen Gestaltungsversuchen, die zwei und drei Jahrhunderte zurückreichen und
deren Herd -- das beachte man wohl -- nicht im Süden, sondern im Norden
sich befand. Man sehe nur die Prophetenreliefs im Georgenchor des Doms zu

Kunst.
Beobachten, geduldiges Befragen; wir fanden auch die Erkenntnis,
dass einzig die Natur Denken und Träumen, Wissen und Phantasie
speist und grosszieht. Wie sollte eine so ausgesprochene Anlage, die
sich bei keiner Menschenrasse der Vergangenheit oder Gegenwart
wiederfindet, ohne Einfluss auf die Kunst bleiben? Nein, wie sehr
auch manche Erscheinung geeignet sein mag, uns irrezuführen: unsere
Kunst ist von Hause aus naturalistisch, und wo auch immer wir sie
in Vergangenheit oder Gegenwart sich resolut zur Natur wenden sehen,
da können wir sicher sein, dass sie den rechten Weg geht.

Dass ich mit dieser Behauptung vielfachen Widerspruch erregen
werde, weiss ich; die Abscheu vor dem Naturalismus in der Kunst
wird uns schon von unseren Ammen eingeflösst, zugleich die Ehr-
furcht vor einem angeblichen Klassizismus; doch werde ich mich nicht
verteidigen, und zwar nicht allein, weil mir der Raum dazu fehlt, sondern
weil die Thatsachen zu überzeugend für sich sprechen, als dass sie meiner
Erläuterung bedürften. Ohne mich also auf Polemik einzulassen, will
ich zum Schluss nur noch einige von diesen Thatsachen von dem
besonderen Standpunkt dieses Werkes aus beleuchten und ihre Be-
deutung für den Zusammenhang des Ganzen zeigen.

Wie zeitig ein herrlich gesunder, kräftiger Naturalismus in der
italienischen Bildhauerei Platz griff, prägt sich uns Laien schon durch
den einen Umstand ein, dass er — trotzdem gerade in Italien und
gerade in diesem Zweige der Kunst die Antike lähmend auf unsere
eigene Art wirken musste — bereits zu Beginn des 15. Jahrhunderts
in Donatello einen mächtigen, überzeugenden Ausdruck gewann, den
keine spätere, künstlich gezüchtete Richtung hat wegwischen können.
Wer die Propheten und Könige auf dem Campanile zu Florenz, wer
jene unvergessliche Büste des Niccolò da Uzzano gesehen hat, weiss,
was unsere Kunst wird können, und dass sie andere Wege zu wandeln
hat als die hellenische.1) Die Malerei wendet sich (wie ich das schon

1) Hier wie überall in diesem Kapitel bin ich gezwungen, mich auf einzelne,
allbekannte Namen zu beschränken, die uns bei der Übersicht unserer Geschichte
als Leitsterne dienen können, doch zeigt gerade ein sorgfältigeres Studium der
Kunstgeschichte, wie es heute mit so viel Erfolg gepflegt wird, dass kein Genie
wie ein Pilz über Nacht hervorschiesst. Jene Macht Donatello’s, die gewisser-
massen wie eine Elementargewalt wirkt, wurzelt in hunderten und tausenden von
redlichen Gestaltungsversuchen, die zwei und drei Jahrhunderte zurückreichen und
deren Herd — das beachte man wohl — nicht im Süden, sondern im Norden
sich befand. Man sehe nur die Prophetenreliefs im Georgenchor des Doms zu
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[991/0470] Kunst. Beobachten, geduldiges Befragen; wir fanden auch die Erkenntnis, dass einzig die Natur Denken und Träumen, Wissen und Phantasie speist und grosszieht. Wie sollte eine so ausgesprochene Anlage, die sich bei keiner Menschenrasse der Vergangenheit oder Gegenwart wiederfindet, ohne Einfluss auf die Kunst bleiben? Nein, wie sehr auch manche Erscheinung geeignet sein mag, uns irrezuführen: unsere Kunst ist von Hause aus naturalistisch, und wo auch immer wir sie in Vergangenheit oder Gegenwart sich resolut zur Natur wenden sehen, da können wir sicher sein, dass sie den rechten Weg geht. Dass ich mit dieser Behauptung vielfachen Widerspruch erregen werde, weiss ich; die Abscheu vor dem Naturalismus in der Kunst wird uns schon von unseren Ammen eingeflösst, zugleich die Ehr- furcht vor einem angeblichen Klassizismus; doch werde ich mich nicht verteidigen, und zwar nicht allein, weil mir der Raum dazu fehlt, sondern weil die Thatsachen zu überzeugend für sich sprechen, als dass sie meiner Erläuterung bedürften. Ohne mich also auf Polemik einzulassen, will ich zum Schluss nur noch einige von diesen Thatsachen von dem besonderen Standpunkt dieses Werkes aus beleuchten und ihre Be- deutung für den Zusammenhang des Ganzen zeigen. Wie zeitig ein herrlich gesunder, kräftiger Naturalismus in der italienischen Bildhauerei Platz griff, prägt sich uns Laien schon durch den einen Umstand ein, dass er — trotzdem gerade in Italien und gerade in diesem Zweige der Kunst die Antike lähmend auf unsere eigene Art wirken musste — bereits zu Beginn des 15. Jahrhunderts in Donatello einen mächtigen, überzeugenden Ausdruck gewann, den keine spätere, künstlich gezüchtete Richtung hat wegwischen können. Wer die Propheten und Könige auf dem Campanile zu Florenz, wer jene unvergessliche Büste des Niccolò da Uzzano gesehen hat, weiss, was unsere Kunst wird können, und dass sie andere Wege zu wandeln hat als die hellenische. 1) Die Malerei wendet sich (wie ich das schon 1) Hier wie überall in diesem Kapitel bin ich gezwungen, mich auf einzelne, allbekannte Namen zu beschränken, die uns bei der Übersicht unserer Geschichte als Leitsterne dienen können, doch zeigt gerade ein sorgfältigeres Studium der Kunstgeschichte, wie es heute mit so viel Erfolg gepflegt wird, dass kein Genie wie ein Pilz über Nacht hervorschiesst. Jene Macht Donatello’s, die gewisser- massen wie eine Elementargewalt wirkt, wurzelt in hunderten und tausenden von redlichen Gestaltungsversuchen, die zwei und drei Jahrhunderte zurückreichen und deren Herd — das beachte man wohl — nicht im Süden, sondern im Norden sich befand. Man sehe nur die Prophetenreliefs im Georgenchor des Doms zu

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 991. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/470>, abgerufen am 22.11.2024.