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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
Wort war, welches dem Hellenen lehrte, bestimmte Ansprüche auf
Gestaltung zu erheben und ihre rohen Bildwerke zu Kunstwerken zu
vervollkommnen, ebenso hat der musikalische Ton uns Germanen ge-
lehrt, immer höhere Anforderungen an den Ausdrucksgehalt jeglicher
Kunst zu stellen. In dem nunmehr, wie ich hoffe, ganz klaren, be-
deutungsvollen, nicht phrasenhaften Sinne des Wortes kann man diese
Richtung des Geschmackes und des Schaffens eine musikalische
nennen. Sie hängt organisch mit jener Anlage unseres Wesens zu-
sammen, welche uns auf philosophischem Gebiete zu Idealisten, auf
religiösem zu Nachfolgern Jesu Christi macht, und welche als künstle-
rische Gestaltung ihren reinsten Ausdruck in der Musik findet. Unsere
Wege sind darum andere als die der Hellenen (worauf ich zurück-
kommen werde, sobald eine notwendige Ergänzung geschehen ist);
nicht als seien die Hellenen unmusikalisch gewesen, wir wissen das
Gegenteil, ihre Musik war aber äusserst einfach, dürftig und dem
Worte unterthan, unsere dagegen ist vielstimmig, mächtig und nur
allzu geneigt, im Sturme der Leidenschaft jede bleibende Wortesgestalt
hinwegzufegen. Ich glaube, der Vergleich wäre treffend, wenn wir
von einem Stiche Dürer's oder einem mediceischen Grabmal Michel-
angelo's sagten, sie seien "polyphone" Werke im Gegensatz zur strikten
"Homophonie" der Hellenen, welche nota bene auch dort gebietet wo,
wie auf den Friesen, zahlreiche Figuren in heftiger Bewegung stehen.
Um Gefühle wirklich zum Ausdruck zu bringen, muss nämlich die
Musik polyphon werden; denn der Gedanke ist seinem Wesen nach
einfach, das Gefühl dagegen ist so vielfältig, dass es im selben Augen-
blick das Verschiedenartige, ja, das direkt Widersprechende -- wie
Hoffnung und Verzweiflung -- bergen kann. Theoretische Grenz-
linien ziehen zu wollen, wäre lächerlich, doch kann man sich über
die Verschiedenheit verwandter Anlagen klar werden, wenn man ein-
sehen lernt: wo, wie beim Hellenen, das Wort allein die Poesie ge-
staltet, da wird in den bildenden Künsten durchsichtige, homophone
Klarheit bei mehr kaltem, abstrakt-symbolischem Ausdruck vorherrschen;
wo dagegen die musikalische Forderung nach unmittelbarem inneren
Ausdruck auf die Gestaltung grossen Einfluss gewinnt, da werden
polyphone Entwürfe und verschlungene Linien auftreten, verbunden mit
intensiver, logisch nicht analysierbarer Ausdruckskraft. Nur in dieser
Auffassung gewinnt jene abgedroschene Phrase einer Verwandtschaft
zwischen gotischer Architektur und Musik einen lebendigen, vor-
stellbaren Sinn; wobei man aber dann sofort einsieht, dass die

Die Entstehung einer neuen Welt.
Wort war, welches dem Hellenen lehrte, bestimmte Ansprüche auf
Gestaltung zu erheben und ihre rohen Bildwerke zu Kunstwerken zu
vervollkommnen, ebenso hat der musikalische Ton uns Germanen ge-
lehrt, immer höhere Anforderungen an den Ausdrucksgehalt jeglicher
Kunst zu stellen. In dem nunmehr, wie ich hoffe, ganz klaren, be-
deutungsvollen, nicht phrasenhaften Sinne des Wortes kann man diese
Richtung des Geschmackes und des Schaffens eine musikalische
nennen. Sie hängt organisch mit jener Anlage unseres Wesens zu-
sammen, welche uns auf philosophischem Gebiete zu Idealisten, auf
religiösem zu Nachfolgern Jesu Christi macht, und welche als künstle-
rische Gestaltung ihren reinsten Ausdruck in der Musik findet. Unsere
Wege sind darum andere als die der Hellenen (worauf ich zurück-
kommen werde, sobald eine notwendige Ergänzung geschehen ist);
nicht als seien die Hellenen unmusikalisch gewesen, wir wissen das
Gegenteil, ihre Musik war aber äusserst einfach, dürftig und dem
Worte unterthan, unsere dagegen ist vielstimmig, mächtig und nur
allzu geneigt, im Sturme der Leidenschaft jede bleibende Wortesgestalt
hinwegzufegen. Ich glaube, der Vergleich wäre treffend, wenn wir
von einem Stiche Dürer’s oder einem mediceischen Grabmal Michel-
angelo’s sagten, sie seien »polyphone« Werke im Gegensatz zur strikten
»Homophonie« der Hellenen, welche nota bene auch dort gebietet wo,
wie auf den Friesen, zahlreiche Figuren in heftiger Bewegung stehen.
Um Gefühle wirklich zum Ausdruck zu bringen, muss nämlich die
Musik polyphon werden; denn der Gedanke ist seinem Wesen nach
einfach, das Gefühl dagegen ist so vielfältig, dass es im selben Augen-
blick das Verschiedenartige, ja, das direkt Widersprechende — wie
Hoffnung und Verzweiflung — bergen kann. Theoretische Grenz-
linien ziehen zu wollen, wäre lächerlich, doch kann man sich über
die Verschiedenheit verwandter Anlagen klar werden, wenn man ein-
sehen lernt: wo, wie beim Hellenen, das Wort allein die Poesie ge-
staltet, da wird in den bildenden Künsten durchsichtige, homophone
Klarheit bei mehr kaltem, abstrakt-symbolischem Ausdruck vorherrschen;
wo dagegen die musikalische Forderung nach unmittelbarem inneren
Ausdruck auf die Gestaltung grossen Einfluss gewinnt, da werden
polyphone Entwürfe und verschlungene Linien auftreten, verbunden mit
intensiver, logisch nicht analysierbarer Ausdruckskraft. Nur in dieser
Auffassung gewinnt jene abgedroschene Phrase einer Verwandtschaft
zwischen gotischer Architektur und Musik einen lebendigen, vor-
stellbaren Sinn; wobei man aber dann sofort einsieht, dass die

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[988/0467] Die Entstehung einer neuen Welt. Wort war, welches dem Hellenen lehrte, bestimmte Ansprüche auf Gestaltung zu erheben und ihre rohen Bildwerke zu Kunstwerken zu vervollkommnen, ebenso hat der musikalische Ton uns Germanen ge- lehrt, immer höhere Anforderungen an den Ausdrucksgehalt jeglicher Kunst zu stellen. In dem nunmehr, wie ich hoffe, ganz klaren, be- deutungsvollen, nicht phrasenhaften Sinne des Wortes kann man diese Richtung des Geschmackes und des Schaffens eine musikalische nennen. Sie hängt organisch mit jener Anlage unseres Wesens zu- sammen, welche uns auf philosophischem Gebiete zu Idealisten, auf religiösem zu Nachfolgern Jesu Christi macht, und welche als künstle- rische Gestaltung ihren reinsten Ausdruck in der Musik findet. Unsere Wege sind darum andere als die der Hellenen (worauf ich zurück- kommen werde, sobald eine notwendige Ergänzung geschehen ist); nicht als seien die Hellenen unmusikalisch gewesen, wir wissen das Gegenteil, ihre Musik war aber äusserst einfach, dürftig und dem Worte unterthan, unsere dagegen ist vielstimmig, mächtig und nur allzu geneigt, im Sturme der Leidenschaft jede bleibende Wortesgestalt hinwegzufegen. Ich glaube, der Vergleich wäre treffend, wenn wir von einem Stiche Dürer’s oder einem mediceischen Grabmal Michel- angelo’s sagten, sie seien »polyphone« Werke im Gegensatz zur strikten »Homophonie« der Hellenen, welche nota bene auch dort gebietet wo, wie auf den Friesen, zahlreiche Figuren in heftiger Bewegung stehen. Um Gefühle wirklich zum Ausdruck zu bringen, muss nämlich die Musik polyphon werden; denn der Gedanke ist seinem Wesen nach einfach, das Gefühl dagegen ist so vielfältig, dass es im selben Augen- blick das Verschiedenartige, ja, das direkt Widersprechende — wie Hoffnung und Verzweiflung — bergen kann. Theoretische Grenz- linien ziehen zu wollen, wäre lächerlich, doch kann man sich über die Verschiedenheit verwandter Anlagen klar werden, wenn man ein- sehen lernt: wo, wie beim Hellenen, das Wort allein die Poesie ge- staltet, da wird in den bildenden Künsten durchsichtige, homophone Klarheit bei mehr kaltem, abstrakt-symbolischem Ausdruck vorherrschen; wo dagegen die musikalische Forderung nach unmittelbarem inneren Ausdruck auf die Gestaltung grossen Einfluss gewinnt, da werden polyphone Entwürfe und verschlungene Linien auftreten, verbunden mit intensiver, logisch nicht analysierbarer Ausdruckskraft. Nur in dieser Auffassung gewinnt jene abgedroschene Phrase einer Verwandtschaft zwischen gotischer Architektur und Musik einen lebendigen, vor- stellbaren Sinn; wobei man aber dann sofort einsieht, dass die

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 988. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/467>, abgerufen am 25.11.2024.