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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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anhören und das Ohr ergötzen sollte" (etwa der Standpunkt der Mehr-
zahl unserer heutigen Litteraten und Ästhetiker des musikalisch
Schönen!), dagegen sie es niemals vermocht hätten, die hohe geistige
Bedeutung zu begreifen, welche alle Griechen (Künstler und Philo-
sophen) gerade dieser Kunst beimassen. Und so hatten sie als Erste
den traurigen Mut, Oden (d. h. Gesänge) zu schreiben, die nicht zum
Singen bestimmt waren. In der späteren Kaiserzeit erwachte dann für
Musik wie für andere Dinge (S. 183) das Interesse am technischen
Virtuosentum und der ziellose Dilettantismus; das ist das Werk des
eindringenden Völkerchaos.1)

Diese Thatsachen bedürfen keines Kommentars. Was aber wohl
eines Kommentars bedarf, ist die vorhin flüchtig angedeutete weitere
Thatsache, dass das Vorwiegen der musikalischen Begabung ein
Charakteristikum des germanischen Geistes ist, denn dies bedingt mit
Notwendigkeit eine andere, eigenartige Entwickelung der Poesie und
somit der gesamten Kunst. Der Kontrast mit anderen indoeuropäischen
Rassen wird uns hierüber belehren. Freilich scheinen auch die Inder
musikalisch sehr begabt gewesen zu sein, doch verlor sich bei
ihnen Alles ins Ungeheuerliche, Übermannigfaltige und daher Gestalt-
lose. So unterschieden sie z. B. 960 verschiedene Tonarten; damit
war jede Möglichkeit eines technischen Ausbaues zerstört.2) Die

1) Ambros: a. a. O., Schluss von Band 1.
2) Bekanntlich ist man heute geneigt, in den ungarischen Zigeunern einen
früh abgeworfenen Zweig der indischen Arier zu erblicken, und musikalische Fach-
männer haben in der unvergleichlichen und eigenartigen musikalischen Begabung
dieser Leute das Analogon der echten indischen Musik zu finden geglaubt: eine
Scala, die sich in Vierteltönen und manchmal noch kleineren Intervallen bewegt,
daher harmonische Gebilde und Fortschreitungen aufweist, die unsere Tonkunst
nicht kennt; ferner die leidenschaftliche Eindringlichkeit der Melodie, dazu die
unendlich reich verzierte Begleitung, welche jeder Fixierung durch unser Noten-
system Trotz bietet, das alles sind Charaktere, welche mit dem, was über indische
Musik berichtet wird genau übereinstimmen und durch welche manches für uns
Unerklärliche in den indischen musikalischen Büchern eine Deutung gewinnt. Wer
jemals sich eine ganze Nacht hindurch von einem echten ungarischen Zigeuner-
orchester hat vorspielen lassen, wird mir schon Recht geben, wenn ich be-
haupte: hier -- und hier allein -- sehen wir die unbedingte musikalische Genialität
am Werke; denn diese Musik, wenn sie sich auch an bekannte Melodien anlehnt,
ist immer Improvisation, immer die Eingebung des Augenblickes; nun ist es aber
die Natur der reinen Musik, nicht monumental, sondern unmittelbare Empfindung
zu sein, und es ist klar, dass eine Musik, welche in dem Moment der Aufführung
als Ausdruck der augenblicklichen Empfindung erfunden wird, ganz anders zu

Kunst.
anhören und das Ohr ergötzen sollte« (etwa der Standpunkt der Mehr-
zahl unserer heutigen Litteraten und Ästhetiker des musikalisch
Schönen!), dagegen sie es niemals vermocht hätten, die hohe geistige
Bedeutung zu begreifen, welche alle Griechen (Künstler und Philo-
sophen) gerade dieser Kunst beimassen. Und so hatten sie als Erste
den traurigen Mut, Oden (d. h. Gesänge) zu schreiben, die nicht zum
Singen bestimmt waren. In der späteren Kaiserzeit erwachte dann für
Musik wie für andere Dinge (S. 183) das Interesse am technischen
Virtuosentum und der ziellose Dilettantismus; das ist das Werk des
eindringenden Völkerchaos.1)

Diese Thatsachen bedürfen keines Kommentars. Was aber wohl
eines Kommentars bedarf, ist die vorhin flüchtig angedeutete weitere
Thatsache, dass das Vorwiegen der musikalischen Begabung ein
Charakteristikum des germanischen Geistes ist, denn dies bedingt mit
Notwendigkeit eine andere, eigenartige Entwickelung der Poesie und
somit der gesamten Kunst. Der Kontrast mit anderen indoeuropäischen
Rassen wird uns hierüber belehren. Freilich scheinen auch die Inder
musikalisch sehr begabt gewesen zu sein, doch verlor sich bei
ihnen Alles ins Ungeheuerliche, Übermannigfaltige und daher Gestalt-
lose. So unterschieden sie z. B. 960 verschiedene Tonarten; damit
war jede Möglichkeit eines technischen Ausbaues zerstört.2) Die

1) Ambros: a. a. O., Schluss von Band 1.
2) Bekanntlich ist man heute geneigt, in den ungarischen Zigeunern einen
früh abgeworfenen Zweig der indischen Arier zu erblicken, und musikalische Fach-
männer haben in der unvergleichlichen und eigenartigen musikalischen Begabung
dieser Leute das Analogon der echten indischen Musik zu finden geglaubt: eine
Scala, die sich in Vierteltönen und manchmal noch kleineren Intervallen bewegt,
daher harmonische Gebilde und Fortschreitungen aufweist, die unsere Tonkunst
nicht kennt; ferner die leidenschaftliche Eindringlichkeit der Melodie, dazu die
unendlich reich verzierte Begleitung, welche jeder Fixierung durch unser Noten-
system Trotz bietet, das alles sind Charaktere, welche mit dem, was über indische
Musik berichtet wird genau übereinstimmen und durch welche manches für uns
Unerklärliche in den indischen musikalischen Büchern eine Deutung gewinnt. Wer
jemals sich eine ganze Nacht hindurch von einem echten ungarischen Zigeuner-
orchester hat vorspielen lassen, wird mir schon Recht geben, wenn ich be-
haupte: hier — und hier allein — sehen wir die unbedingte musikalische Genialität
am Werke; denn diese Musik, wenn sie sich auch an bekannte Melodien anlehnt,
ist immer Improvisation, immer die Eingebung des Augenblickes; nun ist es aber
die Natur der reinen Musik, nicht monumental, sondern unmittelbare Empfindung
zu sein, und es ist klar, dass eine Musik, welche in dem Moment der Aufführung
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[977/0456] Kunst. anhören und das Ohr ergötzen sollte« (etwa der Standpunkt der Mehr- zahl unserer heutigen Litteraten und Ästhetiker des musikalisch Schönen!), dagegen sie es niemals vermocht hätten, die hohe geistige Bedeutung zu begreifen, welche alle Griechen (Künstler und Philo- sophen) gerade dieser Kunst beimassen. Und so hatten sie als Erste den traurigen Mut, Oden (d. h. Gesänge) zu schreiben, die nicht zum Singen bestimmt waren. In der späteren Kaiserzeit erwachte dann für Musik wie für andere Dinge (S. 183) das Interesse am technischen Virtuosentum und der ziellose Dilettantismus; das ist das Werk des eindringenden Völkerchaos. 1) Diese Thatsachen bedürfen keines Kommentars. Was aber wohl eines Kommentars bedarf, ist die vorhin flüchtig angedeutete weitere Thatsache, dass das Vorwiegen der musikalischen Begabung ein Charakteristikum des germanischen Geistes ist, denn dies bedingt mit Notwendigkeit eine andere, eigenartige Entwickelung der Poesie und somit der gesamten Kunst. Der Kontrast mit anderen indoeuropäischen Rassen wird uns hierüber belehren. Freilich scheinen auch die Inder musikalisch sehr begabt gewesen zu sein, doch verlor sich bei ihnen Alles ins Ungeheuerliche, Übermannigfaltige und daher Gestalt- lose. So unterschieden sie z. B. 960 verschiedene Tonarten; damit war jede Möglichkeit eines technischen Ausbaues zerstört. 2) Die 1) Ambros: a. a. O., Schluss von Band 1. 2) Bekanntlich ist man heute geneigt, in den ungarischen Zigeunern einen früh abgeworfenen Zweig der indischen Arier zu erblicken, und musikalische Fach- männer haben in der unvergleichlichen und eigenartigen musikalischen Begabung dieser Leute das Analogon der echten indischen Musik zu finden geglaubt: eine Scala, die sich in Vierteltönen und manchmal noch kleineren Intervallen bewegt, daher harmonische Gebilde und Fortschreitungen aufweist, die unsere Tonkunst nicht kennt; ferner die leidenschaftliche Eindringlichkeit der Melodie, dazu die unendlich reich verzierte Begleitung, welche jeder Fixierung durch unser Noten- system Trotz bietet, das alles sind Charaktere, welche mit dem, was über indische Musik berichtet wird genau übereinstimmen und durch welche manches für uns Unerklärliche in den indischen musikalischen Büchern eine Deutung gewinnt. Wer jemals sich eine ganze Nacht hindurch von einem echten ungarischen Zigeuner- orchester hat vorspielen lassen, wird mir schon Recht geben, wenn ich be- haupte: hier — und hier allein — sehen wir die unbedingte musikalische Genialität am Werke; denn diese Musik, wenn sie sich auch an bekannte Melodien anlehnt, ist immer Improvisation, immer die Eingebung des Augenblickes; nun ist es aber die Natur der reinen Musik, nicht monumental, sondern unmittelbare Empfindung zu sein, und es ist klar, dass eine Musik, welche in dem Moment der Aufführung als Ausdruck der augenblicklichen Empfindung erfunden wird, ganz anders zu

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 977. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/456>, abgerufen am 22.11.2024.