So ist z. B. Kant's Theorie des Himmels ein genau eben so künst- lerisches Gebilde wie Goethe's Metamorphose der Pflanzen, und zwar nicht bloss nach der positiven Seite hin, als gestaltende Wohlthat, sondern auch negativ, insofern nämlich, trotz alles mathematischen Apparates, derartige Zusammenfassungen immer menschliche Gestal- tungen -- und d. h. Mythen -- sind.
Stelle ich also als erstes Erfordernis auf, die Kunst müsse als ein Ganzes betrachtet werden, so will ich damit nichts Geringes gesagt haben. Kunsthandwerk gehört ganz und gar zur Industrie, d. h. in das Gebiet der Civilisation; es kann blühen (wie bei den Chinesen), ohne dass eine Spur von wirklicher Schöpferkraft vorhanden sei; Kunst dagegen als Kulturelement ist (in den verschiedenen Zweigen der indoeuropäischen Familie) ein pulsierendes Blutsystem des gesamten höheren geistigen Lebens. Damit unsere Kunst historisch richtig beurteilt werde, muss darum zunächst die Einheit des Impulses -- die aus den innersten Regungen der Persönlichkeit hervorgeht -- begriffen, sodann das reiche Wechselspiel von Nehmen und Geben bis in die feinsten Verzwei- ungen verfolgt werden. Wie ich S. 730 bemerkte: nur wer ein Ganzes überschaut, ist im Stande, die Unterscheidungen innerhalb des Ganzen durchzuführen; auch eine wahrhaftige Kunstgeschichte kann nicht aus der Aneinanderreihung der verschiedenen sogenannten "Kunstarten" aufgebaut werden, vielmehr muss man erst die Kunst als einheitliches Ganzes ins Auge fassen und sie bis dorthin verfolgen, wo sie mit anderen Lebenserscheinungen zu einem noch grösseren Ganzen ver- schmilzt; dann erst wird man befähigt sein, die Bedeutung ihrer ein- zelnen Erscheinungen richtig zu beurteilen.
Das wäre das erste allgemeine Prinzip.
Das Primat der Poesie.
Das zweite Grundprinzip zieht den unentbehrlichen engeren Kreis: jedes echt künstlerische Schaffen unterliegt dem unbedingten Primat der Poesie. In der Hauptsache kann ich mich damit begnügen, auf das S. 955 fg. Gesagte zurückzuverweisen. Weitere Bestätigung wird der Leser überall finden. So weist z. B. Springer nach, wie die ersten Regungen echter bildender Schöpfungskraft bei den Germanen (etwa im 10. Jahrhundert) nicht dort erwachten, wo sie an frühere Muster bildender Kunst sich anlehnten, sondern dort, wo die Phantasie durch poetische Schöpfungen -- meistens durch die Psalmen und Legenden -- zu freier Gestaltung angeregt war; sofort "offenbart sich eine merkwürdige poetische Anschauungskraft, sie durchdringt den Gegenstand und weiss selbst abstrakte Vorstellungen in einen greif-
Die Entstehung einer neuen Welt.
So ist z. B. Kant’s Theorie des Himmels ein genau eben so künst- lerisches Gebilde wie Goethe’s Metamorphose der Pflanzen, und zwar nicht bloss nach der positiven Seite hin, als gestaltende Wohlthat, sondern auch negativ, insofern nämlich, trotz alles mathematischen Apparates, derartige Zusammenfassungen immer menschliche Gestal- tungen — und d. h. Mythen — sind.
Stelle ich also als erstes Erfordernis auf, die Kunst müsse als ein Ganzes betrachtet werden, so will ich damit nichts Geringes gesagt haben. Kunsthandwerk gehört ganz und gar zur Industrie, d. h. in das Gebiet der Civilisation; es kann blühen (wie bei den Chinesen), ohne dass eine Spur von wirklicher Schöpferkraft vorhanden sei; Kunst dagegen als Kulturelement ist (in den verschiedenen Zweigen der indoeuropäischen Familie) ein pulsierendes Blutsystem des gesamten höheren geistigen Lebens. Damit unsere Kunst historisch richtig beurteilt werde, muss darum zunächst die Einheit des Impulses — die aus den innersten Regungen der Persönlichkeit hervorgeht — begriffen, sodann das reiche Wechselspiel von Nehmen und Geben bis in die feinsten Verzwei- ungen verfolgt werden. Wie ich S. 730 bemerkte: nur wer ein Ganzes überschaut, ist im Stande, die Unterscheidungen innerhalb des Ganzen durchzuführen; auch eine wahrhaftige Kunstgeschichte kann nicht aus der Aneinanderreihung der verschiedenen sogenannten »Kunstarten« aufgebaut werden, vielmehr muss man erst die Kunst als einheitliches Ganzes ins Auge fassen und sie bis dorthin verfolgen, wo sie mit anderen Lebenserscheinungen zu einem noch grösseren Ganzen ver- schmilzt; dann erst wird man befähigt sein, die Bedeutung ihrer ein- zelnen Erscheinungen richtig zu beurteilen.
Das wäre das erste allgemeine Prinzip.
Das Primat der Poesie.
Das zweite Grundprinzip zieht den unentbehrlichen engeren Kreis: jedes echt künstlerische Schaffen unterliegt dem unbedingten Primat der Poesie. In der Hauptsache kann ich mich damit begnügen, auf das S. 955 fg. Gesagte zurückzuverweisen. Weitere Bestätigung wird der Leser überall finden. So weist z. B. Springer nach, wie die ersten Regungen echter bildender Schöpfungskraft bei den Germanen (etwa im 10. Jahrhundert) nicht dort erwachten, wo sie an frühere Muster bildender Kunst sich anlehnten, sondern dort, wo die Phantasie durch poetische Schöpfungen — meistens durch die Psalmen und Legenden — zu freier Gestaltung angeregt war; sofort »offenbart sich eine merkwürdige poetische Anschauungskraft, sie durchdringt den Gegenstand und weiss selbst abstrakte Vorstellungen in einen greif-
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[974/0453]
Die Entstehung einer neuen Welt.
So ist z. B. Kant’s Theorie des Himmels ein genau eben so künst-
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nicht bloss nach der positiven Seite hin, als gestaltende Wohlthat,
sondern auch negativ, insofern nämlich, trotz alles mathematischen
Apparates, derartige Zusammenfassungen immer menschliche Gestal-
tungen — und d. h. Mythen — sind.
Stelle ich also als erstes Erfordernis auf, die Kunst müsse als
ein Ganzes betrachtet werden, so will ich damit nichts Geringes gesagt
haben. Kunsthandwerk gehört ganz und gar zur Industrie, d. h. in das
Gebiet der Civilisation; es kann blühen (wie bei den Chinesen), ohne dass
eine Spur von wirklicher Schöpferkraft vorhanden sei; Kunst dagegen
als Kulturelement ist (in den verschiedenen Zweigen der indoeuropäischen
Familie) ein pulsierendes Blutsystem des gesamten höheren geistigen
Lebens. Damit unsere Kunst historisch richtig beurteilt werde, muss
darum zunächst die Einheit des Impulses — die aus den innersten
Regungen der Persönlichkeit hervorgeht — begriffen, sodann das reiche
Wechselspiel von Nehmen und Geben bis in die feinsten Verzwei-
ungen verfolgt werden. Wie ich S. 730 bemerkte: nur wer ein Ganzes
überschaut, ist im Stande, die Unterscheidungen innerhalb des Ganzen
durchzuführen; auch eine wahrhaftige Kunstgeschichte kann nicht aus
der Aneinanderreihung der verschiedenen sogenannten »Kunstarten«
aufgebaut werden, vielmehr muss man erst die Kunst als einheitliches
Ganzes ins Auge fassen und sie bis dorthin verfolgen, wo sie mit
anderen Lebenserscheinungen zu einem noch grösseren Ganzen ver-
schmilzt; dann erst wird man befähigt sein, die Bedeutung ihrer ein-
zelnen Erscheinungen richtig zu beurteilen.
Das wäre das erste allgemeine Prinzip.
Das zweite Grundprinzip zieht den unentbehrlichen engeren Kreis:
jedes echt künstlerische Schaffen unterliegt dem unbedingten Primat der
Poesie. In der Hauptsache kann ich mich damit begnügen, auf das
S. 955 fg. Gesagte zurückzuverweisen. Weitere Bestätigung wird der
Leser überall finden. So weist z. B. Springer nach, wie die ersten
Regungen echter bildender Schöpfungskraft bei den Germanen (etwa
im 10. Jahrhundert) nicht dort erwachten, wo sie an frühere Muster
bildender Kunst sich anlehnten, sondern dort, wo die Phantasie
durch poetische Schöpfungen — meistens durch die Psalmen und
Legenden — zu freier Gestaltung angeregt war; sofort »offenbart sich
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 974. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/453>, abgerufen am 22.11.2024.
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