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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
rische Neugestaltung des uns durch die Natur gegebenen inneren und
äusseren Stoffes stattfindet, da ist Kunst. Da Kunst Freiheit und
Schöpferkraft voraussetzt, so erfordert sie Persönlichkeit; ein Werk,
welches nicht den Stempel einer besonderen, unterschiedenen Indivi-
dualität trägt, ist kein Kunstwerk. Persönlichkeiten unterscheiden sich
nun nicht allein der Physiognomie, sondern auch dem Grade nach;
hier (wie auch sonst in der Natur) schlägt bei einem bestimmten Punkt
der Gradunterschied in einen spezifischen Unterschied um, so dass wir
berechtigt sind, mit Kant zu behaupten, das Genie unterscheide sich
spezifisch vom gewöhnlichen Menschen.1) Nirgends tritt dies so klar
zu Tage wie in der Kunst, welche in den Werken der authentischen
Genies gewissermassen eine zweite Natur wird, und darum, wie diese,
unvergänglich, unausdenkbar, unerklärlich, unnachahmlich ist. Doch
liegt Verwandtschaft zum Genie in jeder freien, d. h. zur Originalität
befähigten Persönlichkeit; das zeigt sich in dem feinen Verständnis für
Kunst des Genies, in der Begeisterung, die sie erweckt, in der An-
regung zu schöpferischen Thaten, die sie gewährt, in ihrem Einfluss
auf das Schaffen von Männern, die nicht Künstler proprio sensu sind.
Die Kunst des Genies lebt nicht allein in einer Atmosphäre von vor-,
mit- und nachschaffender künstlerischen Genialität, sondern gerade das
Genie streckt seine Wurzeln aus bis in die entlegensten Gebiete, saugt
Nahrung von überall ein und strömt wiederum Lebenskraft überall
hin. Ich verweise auf Leonardo und auf Goethe. Hier sieht man mit
Augen, wie die künstlerische Anlage, überströmend aus jedem ihr
aufgenötigten engeren Behälter, ihre Gestaltungskraft befruchtend über
jedes vom Menschengeist bebaute Feld ergiesst. Bei genauerem Zu-

1) Vergl. S. 61. Wie viele ästhetische Irrlehren und nutzlose Diskussionen hätte
sich unser Jahrhundert sparen können, wenn es das tiefe Wort Kant's besser erwogen
hätte: "Genie ist die angeborene Gemütsanlage, durch welche die Natur der Kunst
die Regel giebt -- -- -- daher das Genie selbst nicht beschreiben oder wissenschaftlich
anzeigen kann, wie es sein Produkt zu Stande bringt, und daher der Urheber eines
Produktes, welches er seinem Genie verdankt, selbst nicht weiss, wie sich in ihm
die Ideen dazu herbeifinden, auch es nicht in seiner Gewalt hat, dergleichen nach
Belieben oder planmässig auszudenken und anderen in solchen Vorschriften mit-
zuteilen, die sie in Stand setzt, gleichmässige Produkte hervorzubringen" (Kritik
der Urteilskraft,
§ 46. Man vergl. ausserdem § 57, Schluss der ersten Anmerkung).
Die italienische Reise war damals noch nicht im Druck erschienen, sonst hätte Kant
sich auf Goethe's Brief vom 6. September 1787 berufen können: "Die hohen Kunst-
werke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren
und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden."

Die Entstehung einer neuen Welt.
rische Neugestaltung des uns durch die Natur gegebenen inneren und
äusseren Stoffes stattfindet, da ist Kunst. Da Kunst Freiheit und
Schöpferkraft voraussetzt, so erfordert sie Persönlichkeit; ein Werk,
welches nicht den Stempel einer besonderen, unterschiedenen Indivi-
dualität trägt, ist kein Kunstwerk. Persönlichkeiten unterscheiden sich
nun nicht allein der Physiognomie, sondern auch dem Grade nach;
hier (wie auch sonst in der Natur) schlägt bei einem bestimmten Punkt
der Gradunterschied in einen spezifischen Unterschied um, so dass wir
berechtigt sind, mit Kant zu behaupten, das Genie unterscheide sich
spezifisch vom gewöhnlichen Menschen.1) Nirgends tritt dies so klar
zu Tage wie in der Kunst, welche in den Werken der authentischen
Genies gewissermassen eine zweite Natur wird, und darum, wie diese,
unvergänglich, unausdenkbar, unerklärlich, unnachahmlich ist. Doch
liegt Verwandtschaft zum Genie in jeder freien, d. h. zur Originalität
befähigten Persönlichkeit; das zeigt sich in dem feinen Verständnis für
Kunst des Genies, in der Begeisterung, die sie erweckt, in der An-
regung zu schöpferischen Thaten, die sie gewährt, in ihrem Einfluss
auf das Schaffen von Männern, die nicht Künstler proprio sensu sind.
Die Kunst des Genies lebt nicht allein in einer Atmosphäre von vor-,
mit- und nachschaffender künstlerischen Genialität, sondern gerade das
Genie streckt seine Wurzeln aus bis in die entlegensten Gebiete, saugt
Nahrung von überall ein und strömt wiederum Lebenskraft überall
hin. Ich verweise auf Leonardo und auf Goethe. Hier sieht man mit
Augen, wie die künstlerische Anlage, überströmend aus jedem ihr
aufgenötigten engeren Behälter, ihre Gestaltungskraft befruchtend über
jedes vom Menschengeist bebaute Feld ergiesst. Bei genauerem Zu-

1) Vergl. S. 61. Wie viele ästhetische Irrlehren und nutzlose Diskussionen hätte
sich unser Jahrhundert sparen können, wenn es das tiefe Wort Kant’s besser erwogen
hätte: »Genie ist die angeborene Gemütsanlage, durch welche die Natur der Kunst
die Regel giebt — — — daher das Genie selbst nicht beschreiben oder wissenschaftlich
anzeigen kann, wie es sein Produkt zu Stande bringt, und daher der Urheber eines
Produktes, welches er seinem Genie verdankt, selbst nicht weiss, wie sich in ihm
die Ideen dazu herbeifinden, auch es nicht in seiner Gewalt hat, dergleichen nach
Belieben oder planmässig auszudenken und anderen in solchen Vorschriften mit-
zuteilen, die sie in Stand setzt, gleichmässige Produkte hervorzubringen« (Kritik
der Urteilskraft,
§ 46. Man vergl. ausserdem § 57, Schluss der ersten Anmerkung).
Die italienische Reise war damals noch nicht im Druck erschienen, sonst hätte Kant
sich auf Goethe’s Brief vom 6. September 1787 berufen können: »Die hohen Kunst-
werke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren
und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden.«
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[972/0451] Die Entstehung einer neuen Welt. rische Neugestaltung des uns durch die Natur gegebenen inneren und äusseren Stoffes stattfindet, da ist Kunst. Da Kunst Freiheit und Schöpferkraft voraussetzt, so erfordert sie Persönlichkeit; ein Werk, welches nicht den Stempel einer besonderen, unterschiedenen Indivi- dualität trägt, ist kein Kunstwerk. Persönlichkeiten unterscheiden sich nun nicht allein der Physiognomie, sondern auch dem Grade nach; hier (wie auch sonst in der Natur) schlägt bei einem bestimmten Punkt der Gradunterschied in einen spezifischen Unterschied um, so dass wir berechtigt sind, mit Kant zu behaupten, das Genie unterscheide sich spezifisch vom gewöhnlichen Menschen. 1) Nirgends tritt dies so klar zu Tage wie in der Kunst, welche in den Werken der authentischen Genies gewissermassen eine zweite Natur wird, und darum, wie diese, unvergänglich, unausdenkbar, unerklärlich, unnachahmlich ist. Doch liegt Verwandtschaft zum Genie in jeder freien, d. h. zur Originalität befähigten Persönlichkeit; das zeigt sich in dem feinen Verständnis für Kunst des Genies, in der Begeisterung, die sie erweckt, in der An- regung zu schöpferischen Thaten, die sie gewährt, in ihrem Einfluss auf das Schaffen von Männern, die nicht Künstler proprio sensu sind. Die Kunst des Genies lebt nicht allein in einer Atmosphäre von vor-, mit- und nachschaffender künstlerischen Genialität, sondern gerade das Genie streckt seine Wurzeln aus bis in die entlegensten Gebiete, saugt Nahrung von überall ein und strömt wiederum Lebenskraft überall hin. Ich verweise auf Leonardo und auf Goethe. Hier sieht man mit Augen, wie die künstlerische Anlage, überströmend aus jedem ihr aufgenötigten engeren Behälter, ihre Gestaltungskraft befruchtend über jedes vom Menschengeist bebaute Feld ergiesst. Bei genauerem Zu- 1) Vergl. S. 61. Wie viele ästhetische Irrlehren und nutzlose Diskussionen hätte sich unser Jahrhundert sparen können, wenn es das tiefe Wort Kant’s besser erwogen hätte: »Genie ist die angeborene Gemütsanlage, durch welche die Natur der Kunst die Regel giebt — — — daher das Genie selbst nicht beschreiben oder wissenschaftlich anzeigen kann, wie es sein Produkt zu Stande bringt, und daher der Urheber eines Produktes, welches er seinem Genie verdankt, selbst nicht weiss, wie sich in ihm die Ideen dazu herbeifinden, auch es nicht in seiner Gewalt hat, dergleichen nach Belieben oder planmässig auszudenken und anderen in solchen Vorschriften mit- zuteilen, die sie in Stand setzt, gleichmässige Produkte hervorzubringen« (Kritik der Urteilskraft, § 46. Man vergl. ausserdem § 57, Schluss der ersten Anmerkung). Die italienische Reise war damals noch nicht im Druck erschienen, sonst hätte Kant sich auf Goethe’s Brief vom 6. September 1787 berufen können: »Die hohen Kunst- werke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden.«

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 972. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/451>, abgerufen am 25.11.2024.