Betrachten wir mit kritischem Auge zuerst die entstellende Erweiterung, sodann die widersinnige Beschränkung.
Kant hat die kürzeste und zugleich erschöpfendste Definition der Kunst gegeben: "schöne Kunst ist Kunst des Genies."1) Eine Ge- schichte der Kunst wäre also eine Geschichte der schöpferischen Genies, woran sich alles andere, wie die Fortschritte der Technik, der Einfluss der umgebenden Kunsthandwerker, der Wechsel des Geschmacks u. s. w. als blosses erläuterndes Beiwerk anreihen würde. Die Technik dagegen zur Hauptsache zu machen, ist lächerlich und wird nicht im mindesten dadurch entschuldigt, dass die grössten Meister zugleich die grössten Erfinder und Handhaber im Technischen waren; denn es kommt alles darauf an, warum sie im Technischen Erfinder waren, und da lautet die Antwort: weil Originalität die erste Eigenschaft des schöpferischen Geistes ist, und dieser daher sich genötigt sieht, für das Neue, das er zu sagen hat, für die eigenartige Gestaltung, die seinem persönlichen Wesen entspricht, sich auch neue Werkzeuge zu schaffen.
Gott soll mich davor behüten, dass ich mich auf den steinigen und mit lauter Dornen bewachsenen Boden der Kunstästhetik begebe! Mir ist es nicht um die Aesthetik, sondern einzig um die Kunst zu thun.2) Was die Hellenen aber schon wussten und was unsere Klassiker stets be- tonen, nämlich, dass die Poesie die Wurzel jeglicher Kunst sei, daran halte ich fest; nehme ich nun die soeben geschilderte Auffassung des Begriffes "Kunst" seitens unserer heutigen Kunsthistoriker hinzu, so erhalte ich einen so weiten und unbestimmten Begriff, dass er meinen Bierkrug und Homer's Ilias umfasst, und dass sich jeder Taglöhner mit dem Grabstichel als "Künstler" einem Leonardo da Vinci zur Seite stellt. Damit schwindet Kant's "Kunst des Genies" hin. Doch ist die Bedeutung der schöpferischen Kunst, wie ich sie in der Ein- leitung zu dem ersten Kapitel dieses Buches in Anlehnung an Schiller entwickelt und im weiteren Verlauf jenes Kapitels an den Hellenen exemplifiziert habe (S. 53 fg.) eine zu wichtige Thatsache der Kultur- geschichte, als dass wir sie auf diese Weise preisgeben könnten. In der Trias Weltanschauung, Religion, Kunst -- welche drei zusammen die Kultur ausmachen -- könnten wir die Kunst am allerwenigsten entbehren. Denn unsere germanische Weltanschauung ist eine trans-
1)Kritik der Urteilskraft, § 46.
2) "Durch alle Theorie der Kunst versperrt man sich den Weg zum wahren Genusse: denn ein schädlicheres Nichts als sie ist nicht erfunden worden" (Goethe).
Die Entstehung einer neuen Welt.
Betrachten wir mit kritischem Auge zuerst die entstellende Erweiterung, sodann die widersinnige Beschränkung.
Kant hat die kürzeste und zugleich erschöpfendste Definition der Kunst gegeben: »schöne Kunst ist Kunst des Genies.«1) Eine Ge- schichte der Kunst wäre also eine Geschichte der schöpferischen Genies, woran sich alles andere, wie die Fortschritte der Technik, der Einfluss der umgebenden Kunsthandwerker, der Wechsel des Geschmacks u. s. w. als blosses erläuterndes Beiwerk anreihen würde. Die Technik dagegen zur Hauptsache zu machen, ist lächerlich und wird nicht im mindesten dadurch entschuldigt, dass die grössten Meister zugleich die grössten Erfinder und Handhaber im Technischen waren; denn es kommt alles darauf an, warum sie im Technischen Erfinder waren, und da lautet die Antwort: weil Originalität die erste Eigenschaft des schöpferischen Geistes ist, und dieser daher sich genötigt sieht, für das Neue, das er zu sagen hat, für die eigenartige Gestaltung, die seinem persönlichen Wesen entspricht, sich auch neue Werkzeuge zu schaffen.
Gott soll mich davor behüten, dass ich mich auf den steinigen und mit lauter Dornen bewachsenen Boden der Kunstästhetik begebe! Mir ist es nicht um die Aesthetik, sondern einzig um die Kunst zu thun.2) Was die Hellenen aber schon wussten und was unsere Klassiker stets be- tonen, nämlich, dass die Poesie die Wurzel jeglicher Kunst sei, daran halte ich fest; nehme ich nun die soeben geschilderte Auffassung des Begriffes »Kunst« seitens unserer heutigen Kunsthistoriker hinzu, so erhalte ich einen so weiten und unbestimmten Begriff, dass er meinen Bierkrug und Homer’s Ilias umfasst, und dass sich jeder Taglöhner mit dem Grabstichel als »Künstler« einem Leonardo da Vinci zur Seite stellt. Damit schwindet Kant’s »Kunst des Genies« hin. Doch ist die Bedeutung der schöpferischen Kunst, wie ich sie in der Ein- leitung zu dem ersten Kapitel dieses Buches in Anlehnung an Schiller entwickelt und im weiteren Verlauf jenes Kapitels an den Hellenen exemplifiziert habe (S. 53 fg.) eine zu wichtige Thatsache der Kultur- geschichte, als dass wir sie auf diese Weise preisgeben könnten. In der Trias Weltanschauung, Religion, Kunst — welche drei zusammen die Kultur ausmachen — könnten wir die Kunst am allerwenigsten entbehren. Denn unsere germanische Weltanschauung ist eine trans-
1)Kritik der Urteilskraft, § 46.
2) »Durch alle Theorie der Kunst versperrt man sich den Weg zum wahren Genusse: denn ein schädlicheres Nichts als sie ist nicht erfunden worden« (Goethe).
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[948/0427]
Die Entstehung einer neuen Welt.
Betrachten wir mit kritischem Auge zuerst die entstellende Erweiterung,
sodann die widersinnige Beschränkung.
Kant hat die kürzeste und zugleich erschöpfendste Definition der
Kunst gegeben: »schöne Kunst ist Kunst des Genies.« 1) Eine Ge-
schichte der Kunst wäre also eine Geschichte der schöpferischen Genies,
woran sich alles andere, wie die Fortschritte der Technik, der Einfluss
der umgebenden Kunsthandwerker, der Wechsel des Geschmacks u. s. w.
als blosses erläuterndes Beiwerk anreihen würde. Die Technik dagegen
zur Hauptsache zu machen, ist lächerlich und wird nicht im mindesten
dadurch entschuldigt, dass die grössten Meister zugleich die grössten
Erfinder und Handhaber im Technischen waren; denn es kommt alles
darauf an, warum sie im Technischen Erfinder waren, und da lautet
die Antwort: weil Originalität die erste Eigenschaft des schöpferischen
Geistes ist, und dieser daher sich genötigt sieht, für das Neue, das er
zu sagen hat, für die eigenartige Gestaltung, die seinem persönlichen
Wesen entspricht, sich auch neue Werkzeuge zu schaffen.
Gott soll mich davor behüten, dass ich mich auf den steinigen und
mit lauter Dornen bewachsenen Boden der Kunstästhetik begebe! Mir
ist es nicht um die Aesthetik, sondern einzig um die Kunst zu thun. 2)
Was die Hellenen aber schon wussten und was unsere Klassiker stets be-
tonen, nämlich, dass die Poesie die Wurzel jeglicher Kunst sei, daran
halte ich fest; nehme ich nun die soeben geschilderte Auffassung des
Begriffes »Kunst« seitens unserer heutigen Kunsthistoriker hinzu, so
erhalte ich einen so weiten und unbestimmten Begriff, dass er meinen
Bierkrug und Homer’s Ilias umfasst, und dass sich jeder Taglöhner
mit dem Grabstichel als »Künstler« einem Leonardo da Vinci zur
Seite stellt. Damit schwindet Kant’s »Kunst des Genies« hin. Doch
ist die Bedeutung der schöpferischen Kunst, wie ich sie in der Ein-
leitung zu dem ersten Kapitel dieses Buches in Anlehnung an Schiller
entwickelt und im weiteren Verlauf jenes Kapitels an den Hellenen
exemplifiziert habe (S. 53 fg.) eine zu wichtige Thatsache der Kultur-
geschichte, als dass wir sie auf diese Weise preisgeben könnten. In
der Trias Weltanschauung, Religion, Kunst — welche drei zusammen
die Kultur ausmachen — könnten wir die Kunst am allerwenigsten
entbehren. Denn unsere germanische Weltanschauung ist eine trans-
1) Kritik der Urteilskraft, § 46.
2) »Durch alle Theorie der Kunst versperrt man sich den Weg zum wahren
Genusse: denn ein schädlicheres Nichts als sie ist nicht erfunden worden« (Goethe).
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 948. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/427>, abgerufen am 25.11.2024.
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