für Tageslicht. Und noch ein Grund liess mich allen Nachdruck gerade auf Kant legen. Die Entfaltung unserer germanischen Kultur, also ge- wissermassen das Facit unserer Arbeit von 1200 bis 1800, findet in diesem Mann einen besonders reinen, umfassenden und verehrungs- würdigen Ausdruck. Gleich bedeutend als Mechaniker, Denker und Sittenlehrer -- wodurch er mehrere grosse Zweige unserer Entwickelung in seiner Person zusammenfasst -- ist er das erste vollendete Muster des ganz freien Germanen, der jede Spur des römischen Absolutismus und Dogmatismus und Antiindividualismus von sich hinweggesäubert hat. Und wie von Rom, so hat er uns auch -- sobald wir es nur wollen -- vom Judentum emanzipiert; nicht auf dem Wege der Ge- hässigkeit und Verfolgung, sondern indem er historischen Aberglauben, spinozistische Kabbalistik und materialistischen Dogmatismus (dog- matischer Materialismus ist nur die Umkehrung desselben Dinges) ein für alle Mal vernichtete. Kant ist der wahre Fortsetzer Luther's; was dieser begonnen, hat Kant weiter ausgebaut.
7. Kunst (von Giotto bis Goethe).
Der Begriff "Kunst".
Über Kunst zu reden wird Einem heutzutage recht schwer ge- macht; denn einesteils hat sich, dem Beispiel aller besten deutschen Autoren zum Trotz, eine geradezu unsinnige Beschränkung des Be- griffes "Kunst" bei uns eingebürgert, andernteils hat die schematisierende Geschichtsphilosophie unsere Fähigkeit, geschichtliche Thatsachen mit offenen, Wahrheit liebenden Augen anzuschauen und mit gesundem Verstand zu beurteilen arg lahm gelegt. Einen Abschnitt wie diesen letzten -- wo man gern frei schweben möchte in den höchsten Regionen -- mit Polemik verquicken zu müssen, ist freilich traurig, doch giebt es keinen Ausweg; denn in Bezug auf Kunst sind die widersinnigsten Irrtümer ebenso fest eingewurzelt, wie in Bezug auf Religion, und wir können weder den Entwickelungsgang bis zum Jahre 1800, noch die Bedeutung der Kunst in unserem Jahrhundert richtig beurteilen, wenn wir nicht gründlich mit den falschen Begriffen und der ent- stellenden Geschichtsschreibung aufräumen. Wenigstens werde ich be- strebt sein, wo ich herunterreisse, gleich wieder aufzubauen, und die Darlegung überkommener Irrtümer sofort zur Klarlegung des wahren Sachverhaltes zu benützen.
Die Entstehung einer neuen Welt.
für Tageslicht. Und noch ein Grund liess mich allen Nachdruck gerade auf Kant legen. Die Entfaltung unserer germanischen Kultur, also ge- wissermassen das Facit unserer Arbeit von 1200 bis 1800, findet in diesem Mann einen besonders reinen, umfassenden und verehrungs- würdigen Ausdruck. Gleich bedeutend als Mechaniker, Denker und Sittenlehrer — wodurch er mehrere grosse Zweige unserer Entwickelung in seiner Person zusammenfasst — ist er das erste vollendete Muster des ganz freien Germanen, der jede Spur des römischen Absolutismus und Dogmatismus und Antiindividualismus von sich hinweggesäubert hat. Und wie von Rom, so hat er uns auch — sobald wir es nur wollen — vom Judentum emanzipiert; nicht auf dem Wege der Ge- hässigkeit und Verfolgung, sondern indem er historischen Aberglauben, spinozistische Kabbalistik und materialistischen Dogmatismus (dog- matischer Materialismus ist nur die Umkehrung desselben Dinges) ein für alle Mal vernichtete. Kant ist der wahre Fortsetzer Luther’s; was dieser begonnen, hat Kant weiter ausgebaut.
7. Kunst (von Giotto bis Goethe).
Der Begriff »Kunst«.
Über Kunst zu reden wird Einem heutzutage recht schwer ge- macht; denn einesteils hat sich, dem Beispiel aller besten deutschen Autoren zum Trotz, eine geradezu unsinnige Beschränkung des Be- griffes »Kunst« bei uns eingebürgert, andernteils hat die schematisierende Geschichtsphilosophie unsere Fähigkeit, geschichtliche Thatsachen mit offenen, Wahrheit liebenden Augen anzuschauen und mit gesundem Verstand zu beurteilen arg lahm gelegt. Einen Abschnitt wie diesen letzten — wo man gern frei schweben möchte in den höchsten Regionen — mit Polemik verquicken zu müssen, ist freilich traurig, doch giebt es keinen Ausweg; denn in Bezug auf Kunst sind die widersinnigsten Irrtümer ebenso fest eingewurzelt, wie in Bezug auf Religion, und wir können weder den Entwickelungsgang bis zum Jahre 1800, noch die Bedeutung der Kunst in unserem Jahrhundert richtig beurteilen, wenn wir nicht gründlich mit den falschen Begriffen und der ent- stellenden Geschichtsschreibung aufräumen. Wenigstens werde ich be- strebt sein, wo ich herunterreisse, gleich wieder aufzubauen, und die Darlegung überkommener Irrtümer sofort zur Klarlegung des wahren Sachverhaltes zu benützen.
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für Tageslicht. Und noch ein Grund liess mich allen Nachdruck gerade
auf Kant legen. Die Entfaltung unserer germanischen Kultur, also ge-
wissermassen das Facit unserer Arbeit von 1200 bis 1800, findet in
diesem Mann einen besonders reinen, umfassenden und verehrungs-
würdigen Ausdruck. Gleich bedeutend als Mechaniker, Denker und
Sittenlehrer — wodurch er mehrere grosse Zweige unserer Entwickelung
in seiner Person zusammenfasst — ist er das erste vollendete Muster
des ganz freien Germanen, der jede Spur des römischen Absolutismus
und Dogmatismus und Antiindividualismus von sich hinweggesäubert
hat. Und wie von Rom, so hat er uns auch — sobald wir es nur
wollen — vom Judentum emanzipiert; nicht auf dem Wege der Ge-
hässigkeit und Verfolgung, sondern indem er historischen Aberglauben,
spinozistische Kabbalistik und materialistischen Dogmatismus (dog-
matischer Materialismus ist nur die Umkehrung desselben Dinges) ein
für alle Mal vernichtete. Kant ist der wahre Fortsetzer Luther’s; was
dieser begonnen, hat Kant weiter ausgebaut.
7. Kunst (von Giotto bis Goethe).
Über Kunst zu reden wird Einem heutzutage recht schwer ge-
macht; denn einesteils hat sich, dem Beispiel aller besten deutschen
Autoren zum Trotz, eine geradezu unsinnige Beschränkung des Be-
griffes »Kunst« bei uns eingebürgert, andernteils hat die schematisierende
Geschichtsphilosophie unsere Fähigkeit, geschichtliche Thatsachen mit
offenen, Wahrheit liebenden Augen anzuschauen und mit gesundem
Verstand zu beurteilen arg lahm gelegt. Einen Abschnitt wie diesen
letzten — wo man gern frei schweben möchte in den höchsten Regionen
— mit Polemik verquicken zu müssen, ist freilich traurig, doch giebt
es keinen Ausweg; denn in Bezug auf Kunst sind die widersinnigsten
Irrtümer ebenso fest eingewurzelt, wie in Bezug auf Religion, und
wir können weder den Entwickelungsgang bis zum Jahre 1800, noch
die Bedeutung der Kunst in unserem Jahrhundert richtig beurteilen,
wenn wir nicht gründlich mit den falschen Begriffen und der ent-
stellenden Geschichtsschreibung aufräumen. Wenigstens werde ich be-
strebt sein, wo ich herunterreisse, gleich wieder aufzubauen, und die
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 946. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/425>, abgerufen am 16.02.2025.
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