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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
fasslichsten Sinne genommen) klar und übersichtlich. Man begriff nun-
mehr, warum jede Naturforschung, auch die streng mechanische, zu-
letzt überall auf metaphysische Fragen -- d. h. auf Fragen an das
Menscheninnere -- zurückführe, was Descartes und Locke in eine so
hilflose Bestürzung gebracht hatte. Erfahrung ist eben nichts Einfaches
und kann niemals rein objektiv sein, weil es unsere eigene thätige
Organisation ist, welche Erfahrung erst möglich macht, indem nicht
allein unsere Sinne nur bestimmte Eindrücke aufnehmen (die sie ausser-
dem bestimmt gestalten),1) sondern unser Verstand sie gleichsam nach
bestimmten Schemen sichtet und ordnet und verknüpft. Und das ist
so überzeugend evident für jeden Menschen, der zugleich Natur-
beobachter und Denker ist, dass selbst ein Goethe -- den Niemand
einer besonderen Vorliebe für derartige Spekulationen wird zeihen
können -- zugestehen muss: "Man kann in den Naturwissenschaften
über manche Probleme nicht gehörig sprechen, wenn man die Meta-
physik nicht zu Hilfe ruft."2) Man begriff nunmehr auch umgekehrt,
mit welchem Recht die Mystiker gemeint hatten, das Menscheninnere
überall in der äusseren Natur zu erblicken: diese Natur ist gleichsam
das geöffnete, hellbeleuchtete Buch unseres Verstandes, nicht etwa,
dass sie ein leeres Phantom dieses Verstandes sei, sie zeigt uns aber
unseren Verstand am Werke und belehrt uns über seine Eigenart.
Wie der Mathematiker und Astronom Lichtenberg sagt: "Man kann
nicht genug bedenken, dass wir nur immer uns beobachten, wenn
wir die Natur und zumal unsere Ordnungen beobachten."3) Schopen-
hauer hat der grossen Bedeutung dieser Einsicht Ausdruck verliehen:
"Die möglichst vollständige Naturerkenntnis ist die berichtigte Dar-
legung des Problems der Metaphysik; daher soll Keiner sich an diese
wagen, ohne zuvor eine, wenn auch nur allgemeine, doch gründliche,
klare und zusammenhängende Kenntnis aller Zweige der Naturwissen-
schaft sich erworben zu haben."4)

Wie der Leser sieht, sobald diese neue Phase des Denkens durch-Das zweite
Dilemma.

laufen war, befand sich der Philosoph wieder vor einem dem früheren
analogen Dilemma; es war sogar dasselbe Dilemma, nur diesmal tiefer
erfasst und in richtigerer Perspektive erschaut. Das Studium der Natur

1) Man kann den optischen Nerv reizen wie man will, der Eindruck ist
immer "Licht", und so bei den anderen Sinnen.
2) Sprüche in Prosa, über Naturwissenschaft, 4.
3) Schriften ed. 1844. Bd. 9, S. 34.
4) Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, Kap. 17.

Weltanschauung und Religion.
fasslichsten Sinne genommen) klar und übersichtlich. Man begriff nun-
mehr, warum jede Naturforschung, auch die streng mechanische, zu-
letzt überall auf metaphysische Fragen — d. h. auf Fragen an das
Menscheninnere — zurückführe, was Descartes und Locke in eine so
hilflose Bestürzung gebracht hatte. Erfahrung ist eben nichts Einfaches
und kann niemals rein objektiv sein, weil es unsere eigene thätige
Organisation ist, welche Erfahrung erst möglich macht, indem nicht
allein unsere Sinne nur bestimmte Eindrücke aufnehmen (die sie ausser-
dem bestimmt gestalten),1) sondern unser Verstand sie gleichsam nach
bestimmten Schemen sichtet und ordnet und verknüpft. Und das ist
so überzeugend evident für jeden Menschen, der zugleich Natur-
beobachter und Denker ist, dass selbst ein Goethe — den Niemand
einer besonderen Vorliebe für derartige Spekulationen wird zeihen
können — zugestehen muss: »Man kann in den Naturwissenschaften
über manche Probleme nicht gehörig sprechen, wenn man die Meta-
physik nicht zu Hilfe ruft.«2) Man begriff nunmehr auch umgekehrt,
mit welchem Recht die Mystiker gemeint hatten, das Menscheninnere
überall in der äusseren Natur zu erblicken: diese Natur ist gleichsam
das geöffnete, hellbeleuchtete Buch unseres Verstandes, nicht etwa,
dass sie ein leeres Phantom dieses Verstandes sei, sie zeigt uns aber
unseren Verstand am Werke und belehrt uns über seine Eigenart.
Wie der Mathematiker und Astronom Lichtenberg sagt: »Man kann
nicht genug bedenken, dass wir nur immer uns beobachten, wenn
wir die Natur und zumal unsere Ordnungen beobachten.«3) Schopen-
hauer hat der grossen Bedeutung dieser Einsicht Ausdruck verliehen:
»Die möglichst vollständige Naturerkenntnis ist die berichtigte Dar-
legung des Problems der Metaphysik; daher soll Keiner sich an diese
wagen, ohne zuvor eine, wenn auch nur allgemeine, doch gründliche,
klare und zusammenhängende Kenntnis aller Zweige der Naturwissen-
schaft sich erworben zu haben.«4)

Wie der Leser sieht, sobald diese neue Phase des Denkens durch-Das zweite
Dilemma.

laufen war, befand sich der Philosoph wieder vor einem dem früheren
analogen Dilemma; es war sogar dasselbe Dilemma, nur diesmal tiefer
erfasst und in richtigerer Perspektive erschaut. Das Studium der Natur

1) Man kann den optischen Nerv reizen wie man will, der Eindruck ist
immer »Licht«, und so bei den anderen Sinnen.
2) Sprüche in Prosa, über Naturwissenschaft, 4.
3) Schriften ed. 1844. Bd. 9, S. 34.
4) Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, Kap. 17.
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[929/0408] Weltanschauung und Religion. fasslichsten Sinne genommen) klar und übersichtlich. Man begriff nun- mehr, warum jede Naturforschung, auch die streng mechanische, zu- letzt überall auf metaphysische Fragen — d. h. auf Fragen an das Menscheninnere — zurückführe, was Descartes und Locke in eine so hilflose Bestürzung gebracht hatte. Erfahrung ist eben nichts Einfaches und kann niemals rein objektiv sein, weil es unsere eigene thätige Organisation ist, welche Erfahrung erst möglich macht, indem nicht allein unsere Sinne nur bestimmte Eindrücke aufnehmen (die sie ausser- dem bestimmt gestalten), 1) sondern unser Verstand sie gleichsam nach bestimmten Schemen sichtet und ordnet und verknüpft. Und das ist so überzeugend evident für jeden Menschen, der zugleich Natur- beobachter und Denker ist, dass selbst ein Goethe — den Niemand einer besonderen Vorliebe für derartige Spekulationen wird zeihen können — zugestehen muss: »Man kann in den Naturwissenschaften über manche Probleme nicht gehörig sprechen, wenn man die Meta- physik nicht zu Hilfe ruft.« 2) Man begriff nunmehr auch umgekehrt, mit welchem Recht die Mystiker gemeint hatten, das Menscheninnere überall in der äusseren Natur zu erblicken: diese Natur ist gleichsam das geöffnete, hellbeleuchtete Buch unseres Verstandes, nicht etwa, dass sie ein leeres Phantom dieses Verstandes sei, sie zeigt uns aber unseren Verstand am Werke und belehrt uns über seine Eigenart. Wie der Mathematiker und Astronom Lichtenberg sagt: »Man kann nicht genug bedenken, dass wir nur immer uns beobachten, wenn wir die Natur und zumal unsere Ordnungen beobachten.« 3) Schopen- hauer hat der grossen Bedeutung dieser Einsicht Ausdruck verliehen: »Die möglichst vollständige Naturerkenntnis ist die berichtigte Dar- legung des Problems der Metaphysik; daher soll Keiner sich an diese wagen, ohne zuvor eine, wenn auch nur allgemeine, doch gründliche, klare und zusammenhängende Kenntnis aller Zweige der Naturwissen- schaft sich erworben zu haben.« 4) Wie der Leser sieht, sobald diese neue Phase des Denkens durch- laufen war, befand sich der Philosoph wieder vor einem dem früheren analogen Dilemma; es war sogar dasselbe Dilemma, nur diesmal tiefer erfasst und in richtigerer Perspektive erschaut. Das Studium der Natur Das zweite Dilemma. 1) Man kann den optischen Nerv reizen wie man will, der Eindruck ist immer »Licht«, und so bei den anderen Sinnen. 2) Sprüche in Prosa, über Naturwissenschaft, 4. 3) Schriften ed. 1844. Bd. 9, S. 34. 4) Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, Kap. 17.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 929. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/408>, abgerufen am 25.11.2024.