anschauung auf den einzig wahren Höhen des Denkens sich weiter ausbildete.
Das erste Dilemma.
Ich bemerkte vorhin, Natur sei nicht allein der Regenbogen und das ihn wahrnehmende Auge, sondern auch das durch diesen Anblick bewegte Gemüt und der ihm nachsinnende Gedanke. Diese Erwägung liegt zu nahe, als dass sie einem Descartes und Locke nicht hätte ein- fallen sollen; doch hatten diese grossen Männer noch schwer zu tragen an der ererbten Vorstellung einer besonderen, unkörperlichen Seele; diese Last klammerte sich ihnen noch so fest an, wie das zu einem Riesen herangewachsene Kind auf den Schultern des Christophorus, und brachte ihr Denken manchmal zum Stolpern; ausserdem waren sie mit Analysen so vollauf beschäftigt, dass ihnen die Kraft der alles überblickenden Synthese abging. Doch finden wir bei ihnen, unter allerhand systematischen und systemlosen Hüllen sehr tiefe Gedanken, die den Weg zur Metaphysik wiesen. Dass man von unseren Vor- stellungen auf die Dinge nicht schliessen könne, hatten, wie gesagt, beide eingesehen: "unsere Vorstellungen von den Qualitäten der Dinge gleichen den Dingen nicht mehr, als der Schmerz dem geschliffenen Dolche gleicht, oder das Gefühl des Kitzelns der kitzelnden Feder".1) Diesen Gedanken verfolgt nun Descartes weiter und gelangt zu der Überzeugung, die menschliche Natur bestehe aus zwei völlig getrennten Teilen, wovon nur der eine dem Reiche der sonst allbeherrschenden Mechanik angehöre, der andere -- den er Seele nennt -- nicht. Die Gedanken und die Leidenschaften machen die Seele aus.2) Es ist nun ein Beweis nicht allein von Descartes' Tiefsinn, sondern namentlich auch von seiner echt naturwissenschaftlichen Denkart, dass er jederzeit für die unbedingte, absolute Trennung von Seele und Körper heftig eintritt; man darf nicht in einer so oft und leidenschaftlich vorgetragenen Überzeugung eine religiöse Einseitigkeit erblicken; nein, Kant hat hundert und einige Jahre später haarscharf nachgewiesen, warum wir in der Praxis genötigt sind, uns "die Erscheinungen im Raume als von den Handlungen des Denkens ganz unterschieden vorzustellen" und insofern "eine zwiefache Natur anzunehmen, die denkende und die körperliche".3) Descartes wählte für diese Einsicht die Form, die ihm zur Verfügung
1) Descartes: Traite du monde ou de la lumiere, ch. 1.
2) Siehe namentlich die 6. Meditation, und in Les passions de l'ame die § 4, 17 u. s. w.
3)Kritik der reinen Vernunft (Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft).
Die Entstehung einer neuen Welt.
anschauung auf den einzig wahren Höhen des Denkens sich weiter ausbildete.
Das erste Dilemma.
Ich bemerkte vorhin, Natur sei nicht allein der Regenbogen und das ihn wahrnehmende Auge, sondern auch das durch diesen Anblick bewegte Gemüt und der ihm nachsinnende Gedanke. Diese Erwägung liegt zu nahe, als dass sie einem Descartes und Locke nicht hätte ein- fallen sollen; doch hatten diese grossen Männer noch schwer zu tragen an der ererbten Vorstellung einer besonderen, unkörperlichen Seele; diese Last klammerte sich ihnen noch so fest an, wie das zu einem Riesen herangewachsene Kind auf den Schultern des Christophorus, und brachte ihr Denken manchmal zum Stolpern; ausserdem waren sie mit Analysen so vollauf beschäftigt, dass ihnen die Kraft der alles überblickenden Synthese abging. Doch finden wir bei ihnen, unter allerhand systematischen und systemlosen Hüllen sehr tiefe Gedanken, die den Weg zur Metaphysik wiesen. Dass man von unseren Vor- stellungen auf die Dinge nicht schliessen könne, hatten, wie gesagt, beide eingesehen: »unsere Vorstellungen von den Qualitäten der Dinge gleichen den Dingen nicht mehr, als der Schmerz dem geschliffenen Dolche gleicht, oder das Gefühl des Kitzelns der kitzelnden Feder«.1) Diesen Gedanken verfolgt nun Descartes weiter und gelangt zu der Überzeugung, die menschliche Natur bestehe aus zwei völlig getrennten Teilen, wovon nur der eine dem Reiche der sonst allbeherrschenden Mechanik angehöre, der andere — den er Seele nennt — nicht. Die Gedanken und die Leidenschaften machen die Seele aus.2) Es ist nun ein Beweis nicht allein von Descartes’ Tiefsinn, sondern namentlich auch von seiner echt naturwissenschaftlichen Denkart, dass er jederzeit für die unbedingte, absolute Trennung von Seele und Körper heftig eintritt; man darf nicht in einer so oft und leidenschaftlich vorgetragenen Überzeugung eine religiöse Einseitigkeit erblicken; nein, Kant hat hundert und einige Jahre später haarscharf nachgewiesen, warum wir in der Praxis genötigt sind, uns »die Erscheinungen im Raume als von den Handlungen des Denkens ganz unterschieden vorzustellen« und insofern »eine zwiefache Natur anzunehmen, die denkende und die körperliche«.3) Descartes wählte für diese Einsicht die Form, die ihm zur Verfügung
1) Descartes: Traité du monde ou de la lumière, ch. 1.
2) Siehe namentlich die 6. Meditation, und in Les passions de l’âme die § 4, 17 u. s. w.
3)Kritik der reinen Vernunft (Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft).
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0393"n="914"/><fwplace="top"type="header">Die Entstehung einer neuen Welt.</fw><lb/>
anschauung auf den einzig wahren Höhen des Denkens sich weiter<lb/>
ausbildete.</p><lb/><noteplace="left">Das erste<lb/>
Dilemma.</note><p>Ich bemerkte vorhin, Natur sei nicht allein der Regenbogen und<lb/>
das ihn wahrnehmende Auge, sondern auch das durch diesen Anblick<lb/>
bewegte Gemüt und der ihm nachsinnende Gedanke. Diese Erwägung<lb/>
liegt zu nahe, als dass sie einem Descartes und Locke nicht hätte ein-<lb/>
fallen sollen; doch hatten diese grossen Männer noch schwer zu tragen<lb/>
an der ererbten Vorstellung einer besonderen, unkörperlichen <hirendition="#g">Seele;</hi><lb/>
diese Last klammerte sich ihnen noch so fest an, wie das zu einem<lb/>
Riesen herangewachsene Kind auf den Schultern des Christophorus,<lb/>
und brachte ihr Denken manchmal zum Stolpern; ausserdem waren<lb/>
sie mit Analysen so vollauf beschäftigt, dass ihnen die Kraft der alles<lb/>
überblickenden Synthese abging. Doch finden wir bei ihnen, unter<lb/>
allerhand systematischen und systemlosen Hüllen sehr tiefe Gedanken,<lb/>
die den Weg zur Metaphysik wiesen. Dass man von unseren Vor-<lb/>
stellungen auf die Dinge nicht schliessen könne, hatten, wie gesagt,<lb/>
beide eingesehen: »unsere Vorstellungen von den Qualitäten der Dinge<lb/>
gleichen den Dingen nicht mehr, als der Schmerz dem geschliffenen<lb/>
Dolche gleicht, oder das Gefühl des Kitzelns der kitzelnden Feder«.<noteplace="foot"n="1)">Descartes: <hirendition="#i">Traité du monde ou de la lumière,</hi> ch. 1.</note><lb/>
Diesen Gedanken verfolgt nun Descartes weiter und gelangt zu der<lb/>
Überzeugung, die menschliche Natur bestehe aus zwei völlig getrennten<lb/>
Teilen, wovon nur der eine dem Reiche der sonst allbeherrschenden<lb/>
Mechanik angehöre, der andere — den er Seele nennt — nicht. Die<lb/>
Gedanken und die Leidenschaften machen die Seele aus.<noteplace="foot"n="2)">Siehe namentlich die 6. <hirendition="#i">Meditation,</hi> und in <hirendition="#i">Les passions de l’âme</hi> die § 4,<lb/>
17 u. s. w.</note> Es ist nun<lb/>
ein Beweis nicht allein von Descartes’ Tiefsinn, sondern namentlich<lb/>
auch von seiner echt naturwissenschaftlichen Denkart, dass er jederzeit<lb/>
für die unbedingte, absolute Trennung von Seele und Körper heftig<lb/>
eintritt; man darf nicht in einer so oft und leidenschaftlich vorgetragenen<lb/>
Überzeugung eine religiöse Einseitigkeit erblicken; nein, Kant hat hundert<lb/>
und einige Jahre später haarscharf nachgewiesen, warum wir in der<lb/>
Praxis genötigt sind, uns »die Erscheinungen im Raume als von den<lb/>
Handlungen des Denkens ganz unterschieden vorzustellen« und insofern<lb/>
»eine zwiefache Natur anzunehmen, die denkende und die körperliche«.<noteplace="foot"n="3)"><hirendition="#i">Kritik der reinen Vernunft</hi> (Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik<lb/>
der menschlichen Vernunft).</note><lb/>
Descartes wählte für diese Einsicht die Form, die ihm zur Verfügung<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[914/0393]
Die Entstehung einer neuen Welt.
anschauung auf den einzig wahren Höhen des Denkens sich weiter
ausbildete.
Ich bemerkte vorhin, Natur sei nicht allein der Regenbogen und
das ihn wahrnehmende Auge, sondern auch das durch diesen Anblick
bewegte Gemüt und der ihm nachsinnende Gedanke. Diese Erwägung
liegt zu nahe, als dass sie einem Descartes und Locke nicht hätte ein-
fallen sollen; doch hatten diese grossen Männer noch schwer zu tragen
an der ererbten Vorstellung einer besonderen, unkörperlichen Seele;
diese Last klammerte sich ihnen noch so fest an, wie das zu einem
Riesen herangewachsene Kind auf den Schultern des Christophorus,
und brachte ihr Denken manchmal zum Stolpern; ausserdem waren
sie mit Analysen so vollauf beschäftigt, dass ihnen die Kraft der alles
überblickenden Synthese abging. Doch finden wir bei ihnen, unter
allerhand systematischen und systemlosen Hüllen sehr tiefe Gedanken,
die den Weg zur Metaphysik wiesen. Dass man von unseren Vor-
stellungen auf die Dinge nicht schliessen könne, hatten, wie gesagt,
beide eingesehen: »unsere Vorstellungen von den Qualitäten der Dinge
gleichen den Dingen nicht mehr, als der Schmerz dem geschliffenen
Dolche gleicht, oder das Gefühl des Kitzelns der kitzelnden Feder«. 1)
Diesen Gedanken verfolgt nun Descartes weiter und gelangt zu der
Überzeugung, die menschliche Natur bestehe aus zwei völlig getrennten
Teilen, wovon nur der eine dem Reiche der sonst allbeherrschenden
Mechanik angehöre, der andere — den er Seele nennt — nicht. Die
Gedanken und die Leidenschaften machen die Seele aus. 2) Es ist nun
ein Beweis nicht allein von Descartes’ Tiefsinn, sondern namentlich
auch von seiner echt naturwissenschaftlichen Denkart, dass er jederzeit
für die unbedingte, absolute Trennung von Seele und Körper heftig
eintritt; man darf nicht in einer so oft und leidenschaftlich vorgetragenen
Überzeugung eine religiöse Einseitigkeit erblicken; nein, Kant hat hundert
und einige Jahre später haarscharf nachgewiesen, warum wir in der
Praxis genötigt sind, uns »die Erscheinungen im Raume als von den
Handlungen des Denkens ganz unterschieden vorzustellen« und insofern
»eine zwiefache Natur anzunehmen, die denkende und die körperliche«. 3)
Descartes wählte für diese Einsicht die Form, die ihm zur Verfügung
1) Descartes: Traité du monde ou de la lumière, ch. 1.
2) Siehe namentlich die 6. Meditation, und in Les passions de l’âme die § 4,
17 u. s. w.
3) Kritik der reinen Vernunft (Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik
der menschlichen Vernunft).
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 914. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/393>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.