Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Entstehung einer neuen Welt.
widmen. Nicht dass er im Ernste daran gezweifelt hätte; gerade
aber die konsequent durchgeführte Einsicht, dass alle Wissenschaft
Bewegungslehre sei, hatte ihm eine Erkenntnis aufgedrungen, die früher
höchstens hier und dort als sophistische Spielerei aufgetreten war:
"dass aus der körperlichen Natur gar kein einziges Argu-
ment geschöpft werden kann, welches mit Notwendigkeit
auf die Existenz eines Körpers schliessen lässt."
Und er er-
schrak so sehr über die unwiderlegbare Wahrheit dieses wissenschaft-
lichen Ergebnisses, dass er, um sich aus der Klemme zu helfen, zur
Theologie greifen musste: "da Gott kein Betrüger ist, folgere ich mit
Notwendigkeit, dass er mich auch in Bezug auf die körperlichen
Dinge nicht betrogen hat."1) Locke gelangte ein halbes Jahrhundert
später auf einem anderen Wege zu einem ganz analogen Schluss:
"ein Wissen der sinnlich wahrgenommenen Körper kann es nicht
geben;
wie weit auch menschlicher Fleiss die nützliche und ausführ-
liche Kenntnis der körperlichen Dinge in Zukunft wird fördern können,
ein Wissen davon wird stets unerreichbar bleiben, denn selbst für das
Nächstliegende fehlt uns die Fähigkeit zu adäquaten Vorstellungen zu
gelangen .... nie werden wir in dieser Beziehung bis auf den Grund
der Wahrheit kommen können." Und auch Locke half sich, indem
er dem Problem auswich und in die Arme der Theologie flüchtete:
unsere Vernunft ist die göttliche Offenbarung, durch welche Gott uns
einen Teil der Wahrheit mitgeteilt hat u. s. w.2) Der Unterschied
zwischen Descartes und Locke besteht nur darin, dass der mechanisch
Denkende (Descartes) die absolute Unmöglichkeit, die Existenz der
Körper überhaupt wissenschaftlich zu beweisen, lebhaft empfindet, wo-
gegen der Psycholog (Locke) die zwingende Kraft der mechanischen
Erwägungen weniger begreift, dagegen aber durch die psychologische
Unmöglichkeit gefesselt wird, auf das Wesen eines Dinges aus seinen
von uns wahrgenommenen Qualitäten zu schliessen. Inzwischen ver-
tiefte sich die neue Weltanschauung immer weiter, doch blieb jene

1) Meditations metaphysiques, 6. (Der erste Satz im zweiten Absatz, der zweite
im letzten).
2) l. c., Buch 4., Kap. 3, § 26 und Kap. 19, § 4. In diesen theologischen
Ausflüchten der ersten Bearbeiter der neuen germanischen Weltanschauung liegt
offenbar der Keim zu der späteren dogmatischen Annahme der Schelling und Hegel
von der Identität des Denkens und Seins. Was jenen Bahnbrechern eine blosse
Rast am Wege gewesen war und zugleich eine Rettung vor der Verfolgung
fanatischer Pfaffen, ward jetzt der Eckstein eines neuen Absolutismus.

Die Entstehung einer neuen Welt.
widmen. Nicht dass er im Ernste daran gezweifelt hätte; gerade
aber die konsequent durchgeführte Einsicht, dass alle Wissenschaft
Bewegungslehre sei, hatte ihm eine Erkenntnis aufgedrungen, die früher
höchstens hier und dort als sophistische Spielerei aufgetreten war:
»dass aus der körperlichen Natur gar kein einziges Argu-
ment geschöpft werden kann, welches mit Notwendigkeit
auf die Existenz eines Körpers schliessen lässt.«
Und er er-
schrak so sehr über die unwiderlegbare Wahrheit dieses wissenschaft-
lichen Ergebnisses, dass er, um sich aus der Klemme zu helfen, zur
Theologie greifen musste: »da Gott kein Betrüger ist, folgere ich mit
Notwendigkeit, dass er mich auch in Bezug auf die körperlichen
Dinge nicht betrogen hat.«1) Locke gelangte ein halbes Jahrhundert
später auf einem anderen Wege zu einem ganz analogen Schluss:
»ein Wissen der sinnlich wahrgenommenen Körper kann es nicht
geben;
wie weit auch menschlicher Fleiss die nützliche und ausführ-
liche Kenntnis der körperlichen Dinge in Zukunft wird fördern können,
ein Wissen davon wird stets unerreichbar bleiben, denn selbst für das
Nächstliegende fehlt uns die Fähigkeit zu adäquaten Vorstellungen zu
gelangen .... nie werden wir in dieser Beziehung bis auf den Grund
der Wahrheit kommen können.« Und auch Locke half sich, indem
er dem Problem auswich und in die Arme der Theologie flüchtete:
unsere Vernunft ist die göttliche Offenbarung, durch welche Gott uns
einen Teil der Wahrheit mitgeteilt hat u. s. w.2) Der Unterschied
zwischen Descartes und Locke besteht nur darin, dass der mechanisch
Denkende (Descartes) die absolute Unmöglichkeit, die Existenz der
Körper überhaupt wissenschaftlich zu beweisen, lebhaft empfindet, wo-
gegen der Psycholog (Locke) die zwingende Kraft der mechanischen
Erwägungen weniger begreift, dagegen aber durch die psychologische
Unmöglichkeit gefesselt wird, auf das Wesen eines Dinges aus seinen
von uns wahrgenommenen Qualitäten zu schliessen. Inzwischen ver-
tiefte sich die neue Weltanschauung immer weiter, doch blieb jene

1) Méditations métaphysiques, 6. (Der erste Satz im zweiten Absatz, der zweite
im letzten).
2) l. c., Buch 4., Kap. 3, § 26 und Kap. 19, § 4. In diesen theologischen
Ausflüchten der ersten Bearbeiter der neuen germanischen Weltanschauung liegt
offenbar der Keim zu der späteren dogmatischen Annahme der Schelling und Hegel
von der Identität des Denkens und Seins. Was jenen Bahnbrechern eine blosse
Rast am Wege gewesen war und zugleich eine Rettung vor der Verfolgung
fanatischer Pfaffen, ward jetzt der Eckstein eines neuen Absolutismus.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0391" n="912"/><fw place="top" type="header">Die Entstehung einer neuen Welt.</fw><lb/>
widmen. Nicht dass er im Ernste daran gezweifelt hätte; gerade<lb/>
aber die konsequent durchgeführte Einsicht, dass alle Wissenschaft<lb/>
Bewegungslehre sei, hatte ihm eine Erkenntnis aufgedrungen, die früher<lb/>
höchstens hier und dort als sophistische Spielerei aufgetreten war:<lb/><hi rendition="#g">»dass aus der körperlichen Natur gar kein einziges Argu-<lb/>
ment geschöpft werden kann, welches mit Notwendigkeit<lb/>
auf die Existenz eines Körpers schliessen lässt.«</hi> Und er er-<lb/>
schrak so sehr über die unwiderlegbare Wahrheit dieses wissenschaft-<lb/>
lichen Ergebnisses, dass er, um sich aus der Klemme zu helfen, zur<lb/>
Theologie greifen musste: »da Gott kein Betrüger ist, folgere ich mit<lb/>
Notwendigkeit, dass er mich auch in Bezug auf die körperlichen<lb/>
Dinge nicht betrogen hat.«<note place="foot" n="1)"><hi rendition="#i">Méditations métaphysiques,</hi> 6. (Der erste Satz im zweiten Absatz, der zweite<lb/>
im letzten).</note> Locke gelangte ein halbes Jahrhundert<lb/>
später auf einem anderen Wege zu einem ganz analogen Schluss:<lb/>
»ein Wissen der sinnlich wahrgenommenen Körper <hi rendition="#g">kann es nicht<lb/>
geben;</hi> wie weit auch menschlicher Fleiss die nützliche und ausführ-<lb/>
liche Kenntnis der körperlichen Dinge in Zukunft wird fördern können,<lb/>
ein Wissen davon wird stets unerreichbar bleiben, denn selbst für das<lb/>
Nächstliegende fehlt uns die Fähigkeit zu adäquaten Vorstellungen zu<lb/>
gelangen .... nie werden wir in dieser Beziehung bis auf den Grund<lb/>
der Wahrheit kommen können.« Und auch Locke half sich, indem<lb/>
er dem Problem auswich und in die Arme der Theologie flüchtete:<lb/>
unsere Vernunft ist die göttliche Offenbarung, durch welche Gott uns<lb/>
einen Teil der Wahrheit mitgeteilt hat u. s. w.<note place="foot" n="2)">l. c., Buch 4., Kap. 3, § 26 und Kap. 19, § 4. In diesen theologischen<lb/>
Ausflüchten der ersten Bearbeiter der neuen germanischen Weltanschauung liegt<lb/>
offenbar der Keim zu der späteren dogmatischen Annahme der Schelling und Hegel<lb/>
von der Identität des Denkens und Seins. Was jenen Bahnbrechern eine blosse<lb/>
Rast am Wege gewesen war und zugleich eine Rettung vor der Verfolgung<lb/>
fanatischer Pfaffen, ward jetzt der Eckstein eines neuen Absolutismus.</note> Der Unterschied<lb/>
zwischen Descartes und Locke besteht nur darin, dass der mechanisch<lb/>
Denkende (Descartes) die absolute Unmöglichkeit, die Existenz der<lb/>
Körper überhaupt wissenschaftlich zu beweisen, lebhaft empfindet, wo-<lb/>
gegen der Psycholog (Locke) die zwingende Kraft der mechanischen<lb/>
Erwägungen weniger begreift, dagegen aber durch die psychologische<lb/>
Unmöglichkeit gefesselt wird, auf das Wesen eines Dinges aus seinen<lb/>
von uns wahrgenommenen Qualitäten zu schliessen. Inzwischen ver-<lb/>
tiefte sich die neue Weltanschauung immer weiter, doch blieb jene<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[912/0391] Die Entstehung einer neuen Welt. widmen. Nicht dass er im Ernste daran gezweifelt hätte; gerade aber die konsequent durchgeführte Einsicht, dass alle Wissenschaft Bewegungslehre sei, hatte ihm eine Erkenntnis aufgedrungen, die früher höchstens hier und dort als sophistische Spielerei aufgetreten war: »dass aus der körperlichen Natur gar kein einziges Argu- ment geschöpft werden kann, welches mit Notwendigkeit auf die Existenz eines Körpers schliessen lässt.« Und er er- schrak so sehr über die unwiderlegbare Wahrheit dieses wissenschaft- lichen Ergebnisses, dass er, um sich aus der Klemme zu helfen, zur Theologie greifen musste: »da Gott kein Betrüger ist, folgere ich mit Notwendigkeit, dass er mich auch in Bezug auf die körperlichen Dinge nicht betrogen hat.« 1) Locke gelangte ein halbes Jahrhundert später auf einem anderen Wege zu einem ganz analogen Schluss: »ein Wissen der sinnlich wahrgenommenen Körper kann es nicht geben; wie weit auch menschlicher Fleiss die nützliche und ausführ- liche Kenntnis der körperlichen Dinge in Zukunft wird fördern können, ein Wissen davon wird stets unerreichbar bleiben, denn selbst für das Nächstliegende fehlt uns die Fähigkeit zu adäquaten Vorstellungen zu gelangen .... nie werden wir in dieser Beziehung bis auf den Grund der Wahrheit kommen können.« Und auch Locke half sich, indem er dem Problem auswich und in die Arme der Theologie flüchtete: unsere Vernunft ist die göttliche Offenbarung, durch welche Gott uns einen Teil der Wahrheit mitgeteilt hat u. s. w. 2) Der Unterschied zwischen Descartes und Locke besteht nur darin, dass der mechanisch Denkende (Descartes) die absolute Unmöglichkeit, die Existenz der Körper überhaupt wissenschaftlich zu beweisen, lebhaft empfindet, wo- gegen der Psycholog (Locke) die zwingende Kraft der mechanischen Erwägungen weniger begreift, dagegen aber durch die psychologische Unmöglichkeit gefesselt wird, auf das Wesen eines Dinges aus seinen von uns wahrgenommenen Qualitäten zu schliessen. Inzwischen ver- tiefte sich die neue Weltanschauung immer weiter, doch blieb jene 1) Méditations métaphysiques, 6. (Der erste Satz im zweiten Absatz, der zweite im letzten). 2) l. c., Buch 4., Kap. 3, § 26 und Kap. 19, § 4. In diesen theologischen Ausflüchten der ersten Bearbeiter der neuen germanischen Weltanschauung liegt offenbar der Keim zu der späteren dogmatischen Annahme der Schelling und Hegel von der Identität des Denkens und Seins. Was jenen Bahnbrechern eine blosse Rast am Wege gewesen war und zugleich eine Rettung vor der Verfolgung fanatischer Pfaffen, ward jetzt der Eckstein eines neuen Absolutismus.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/391
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 912. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/391>, abgerufen am 22.11.2024.