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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
anschauung war dieser Nachweis unentbehrlich; erst Kant hat das Trug-
gebäude der römischen Theologie endgültig zertrümmert, er "der Alles-
zermalmer", wie ihn Moses Mendelssohn treffend nennt. Dasselbe hatten
gleich die ersten Theologen, welche den Weg der Wahrhaftigkeit wan-
delten, zu thun unternommen. Zwar waren Duns Scotus und Occam
nicht in der Lage gewesen, das kirchliche Truggebäude auf dem direkten
Wege des Naturforschers zu unterminieren, wie Kant, doch hatten sie für
praktische Zwecke genau dasselbe und mit hinreichender Überzeugungs-
kraft durch die reductio ad absurdum der entgegengesetzten Behauptung
dargethan. Aus dieser Einsicht ergaben sich gleich Anfangs zwei
Folgerungen mit mathematischer Notwendigkeit: erstens, die Befreiung
der Vernunft mit allem, was zu ihr gehört, aus dem theologischen
Dienste, da sie zu diesem doch nichts taugte; zweitens, die Zurück-
führung des religiösen Glaubens auf einen anderen Kanon, da derjenige
der Vernunft sich als unbrauchbar erwiesen hatte. Und in der That,
was die Befreiung der Vernunft anbetrifft, so sehen wir schon Occam
sich an seinen Ordensbruder Roger Bacon anschliessen und die empi-
rische Beobachtung der Natur fordern; zugleich sehen wir ihn auf das
Gebiet der praktischen Politik im Sinne erweiterter persönlicher und
nationaler Freiheit übergreifen, was ein Gebot der befreiten Vernunft
war, während die gefesselte Vernunft die universelle civitas Dei (zu
Occam's Lebzeiten durch Dante's Mund) als eine göttliche Einrichtung
nachzuweisen gesucht hatte. Und was den zweiten Punkt anbelangt,
so ist es klar, dass wenn die Lehren der Religion gar keine Gewähr
in den Vernunftschlüssen des Hirns finden, der Theolog mit um so
grösserer Energie bestrebt sein muss, diese Gewähr an einem anderen
Orte nachzuweisen, und dieser Ort konnte zunächst kein anderer sein,
als die heilige Schrift. So paradox es im ersten Augenblick erscheint,
Thatsache ist es doch, dass die heftige, unduldsame, engherzige Ortho-
doxie des Scotus, im Gegensatz zu der bisweilen fast freigeistig sich ge-
bärdenden, mit augustinischen Widersprüchen überlegen spielenden Ruhe
des Thomas, den Weg zur Befreiung von der Kirche gewiesen hat. Denn
die von der römischen Kirche so stark bevorzugte Richtung des Thomas
emancipierte sie eigentlich ganz und gar von der Lehre Christi. Schon
hatte die Kirche sich mit ihren Kirchenvätern und Konzilien so sehr in
den Vordergrund gedrängt, dass das Evangelium bedenklich an Bedeutung
verloren hatte; nun wurde der Beweis geliefert, die Glaubensdogmen
"müssten so sein", die Vernunft könne dies jeden Augenblick als logische
Notwendigkeit darthun. Sich da noch weiter auf die Schrift berufen,

Weltanschauung und Religion.
anschauung war dieser Nachweis unentbehrlich; erst Kant hat das Trug-
gebäude der römischen Theologie endgültig zertrümmert, er »der Alles-
zermalmer«, wie ihn Moses Mendelssohn treffend nennt. Dasselbe hatten
gleich die ersten Theologen, welche den Weg der Wahrhaftigkeit wan-
delten, zu thun unternommen. Zwar waren Duns Scotus und Occam
nicht in der Lage gewesen, das kirchliche Truggebäude auf dem direkten
Wege des Naturforschers zu unterminieren, wie Kant, doch hatten sie für
praktische Zwecke genau dasselbe und mit hinreichender Überzeugungs-
kraft durch die reductio ad absurdum der entgegengesetzten Behauptung
dargethan. Aus dieser Einsicht ergaben sich gleich Anfangs zwei
Folgerungen mit mathematischer Notwendigkeit: erstens, die Befreiung
der Vernunft mit allem, was zu ihr gehört, aus dem theologischen
Dienste, da sie zu diesem doch nichts taugte; zweitens, die Zurück-
führung des religiösen Glaubens auf einen anderen Kanon, da derjenige
der Vernunft sich als unbrauchbar erwiesen hatte. Und in der That,
was die Befreiung der Vernunft anbetrifft, so sehen wir schon Occam
sich an seinen Ordensbruder Roger Bacon anschliessen und die empi-
rische Beobachtung der Natur fordern; zugleich sehen wir ihn auf das
Gebiet der praktischen Politik im Sinne erweiterter persönlicher und
nationaler Freiheit übergreifen, was ein Gebot der befreiten Vernunft
war, während die gefesselte Vernunft die universelle civitas Dei (zu
Occam’s Lebzeiten durch Dante’s Mund) als eine göttliche Einrichtung
nachzuweisen gesucht hatte. Und was den zweiten Punkt anbelangt,
so ist es klar, dass wenn die Lehren der Religion gar keine Gewähr
in den Vernunftschlüssen des Hirns finden, der Theolog mit um so
grösserer Energie bestrebt sein muss, diese Gewähr an einem anderen
Orte nachzuweisen, und dieser Ort konnte zunächst kein anderer sein,
als die heilige Schrift. So paradox es im ersten Augenblick erscheint,
Thatsache ist es doch, dass die heftige, unduldsame, engherzige Ortho-
doxie des Scotus, im Gegensatz zu der bisweilen fast freigeistig sich ge-
bärdenden, mit augustinischen Widersprüchen überlegen spielenden Ruhe
des Thomas, den Weg zur Befreiung von der Kirche gewiesen hat. Denn
die von der römischen Kirche so stark bevorzugte Richtung des Thomas
emancipierte sie eigentlich ganz und gar von der Lehre Christi. Schon
hatte die Kirche sich mit ihren Kirchenvätern und Konzilien so sehr in
den Vordergrund gedrängt, dass das Evangelium bedenklich an Bedeutung
verloren hatte; nun wurde der Beweis geliefert, die Glaubensdogmen
»müssten so sein«, die Vernunft könne dies jeden Augenblick als logische
Notwendigkeit darthun. Sich da noch weiter auf die Schrift berufen,

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[871/0350] Weltanschauung und Religion. anschauung war dieser Nachweis unentbehrlich; erst Kant hat das Trug- gebäude der römischen Theologie endgültig zertrümmert, er »der Alles- zermalmer«, wie ihn Moses Mendelssohn treffend nennt. Dasselbe hatten gleich die ersten Theologen, welche den Weg der Wahrhaftigkeit wan- delten, zu thun unternommen. Zwar waren Duns Scotus und Occam nicht in der Lage gewesen, das kirchliche Truggebäude auf dem direkten Wege des Naturforschers zu unterminieren, wie Kant, doch hatten sie für praktische Zwecke genau dasselbe und mit hinreichender Überzeugungs- kraft durch die reductio ad absurdum der entgegengesetzten Behauptung dargethan. Aus dieser Einsicht ergaben sich gleich Anfangs zwei Folgerungen mit mathematischer Notwendigkeit: erstens, die Befreiung der Vernunft mit allem, was zu ihr gehört, aus dem theologischen Dienste, da sie zu diesem doch nichts taugte; zweitens, die Zurück- führung des religiösen Glaubens auf einen anderen Kanon, da derjenige der Vernunft sich als unbrauchbar erwiesen hatte. Und in der That, was die Befreiung der Vernunft anbetrifft, so sehen wir schon Occam sich an seinen Ordensbruder Roger Bacon anschliessen und die empi- rische Beobachtung der Natur fordern; zugleich sehen wir ihn auf das Gebiet der praktischen Politik im Sinne erweiterter persönlicher und nationaler Freiheit übergreifen, was ein Gebot der befreiten Vernunft war, während die gefesselte Vernunft die universelle civitas Dei (zu Occam’s Lebzeiten durch Dante’s Mund) als eine göttliche Einrichtung nachzuweisen gesucht hatte. Und was den zweiten Punkt anbelangt, so ist es klar, dass wenn die Lehren der Religion gar keine Gewähr in den Vernunftschlüssen des Hirns finden, der Theolog mit um so grösserer Energie bestrebt sein muss, diese Gewähr an einem anderen Orte nachzuweisen, und dieser Ort konnte zunächst kein anderer sein, als die heilige Schrift. So paradox es im ersten Augenblick erscheint, Thatsache ist es doch, dass die heftige, unduldsame, engherzige Ortho- doxie des Scotus, im Gegensatz zu der bisweilen fast freigeistig sich ge- bärdenden, mit augustinischen Widersprüchen überlegen spielenden Ruhe des Thomas, den Weg zur Befreiung von der Kirche gewiesen hat. Denn die von der römischen Kirche so stark bevorzugte Richtung des Thomas emancipierte sie eigentlich ganz und gar von der Lehre Christi. Schon hatte die Kirche sich mit ihren Kirchenvätern und Konzilien so sehr in den Vordergrund gedrängt, dass das Evangelium bedenklich an Bedeutung verloren hatte; nun wurde der Beweis geliefert, die Glaubensdogmen »müssten so sein«, die Vernunft könne dies jeden Augenblick als logische Notwendigkeit darthun. Sich da noch weiter auf die Schrift berufen,

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 871. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/350>, abgerufen am 22.11.2024.