nun die kirchlichen Dogmen für unanfechtbar galten, gab es für die Philosophie zunächst zwei Wege: sie konnte die Inkompatibilität zwischen ihr und der Theologie offen eingestehen -- das war der Weg der Wahrhaftigkeit; oder aber, sie konnte die handgreifliche Evidenz leugnen, sich selbst und andere betrügen, und das Unver- einbare durch tausend Kniffe und Schliche zwingen, sich doch zu ver- einigen -- dies war der Weg der Unwahrhaftigkeit.
Der Weg der Wahrhaftigkeit verzweigt sich gleich anfangs nachDer Weg der Wahrhaftigkeit. verschiedenen Richtungen hin. Er konnte zu einer kühnen, echt pauli- nischen, antirationalistischen Theologie führen, wie Duns Scotus (1274--1308) und Occam (+ 1343) zeigen. Er konnte zu einer prinzi- piellen Unterordnung der Logik unter das intuitive Gefühl Veranlassung geben, woraus die reiche Skala der mystischen Weltauffassungen hervorging, die, von Franz von Assisi (1182--1226) und Eckhart (1260--1328) ihren Anfang nehmend, zu so weit auseinander weichenden Geistern wie Thomas von Kempen, dem Verfasser der Imitatio Christi (1380--1471) und Paracelsus, dem Begründer einer wissenschaftlichen Medizin (1493--1541) oder Stahl, dem Urheber der neueren Chemie (1660--1734)1) führen sollte. Oder wiederum, es konnte diese rück- sichtslose Wahrhaftigkeit ein Wegwenden von jeder speziellen Be- schäftigung mit christlicher Theologie und den Erwerb einer um- fassenden, freien Weltbildung veranlassen, wie wir das schon bei dem encyklopädischen Albertus Magnus (1193--1280) angedeutet, weiter ausgebildet dann bei den Humanisten finden, z. B. bei Picus von Mirandola (1463--94), der die Wissenschaft der Hellenen für eine ebenso göttliche Offenbarung wie die Bücher der Juden hält und sie darum mit religiösem Feuereifer studiert. Schliesslich aber konnte dieser Weg die in Bezug auf Weltanschauung am tiefsten angelegten Geister dahinführen, die Grundlagen der damals als autoritativ geltenden theo- retischen Philosophie kritisch zu prüfen und zu verwerfen, um dann als freie, verantwortliche Männer an den Aufbau einer neuen, unserem Geiste und unseren Kenntnissen entsprechenden zu schreiten; diese Be- wegung -- die eigentlich "philosophische" -- geht bei uns überall von der Erforschung der Natur aus. ihre Vertreter sind naturforschende Philosophen oder philosophische Naturforscher; sie hebt mit Roger Bacon (1214--1294) an, schlummert dann lange Zeit, von der Kirche gewalt- sam unterdrückt, erhebt jedoch nach der Erstarkung der Naturwissen-
1) Siehe S. 803.
Weltanschauung und Religion.
nun die kirchlichen Dogmen für unanfechtbar galten, gab es für die Philosophie zunächst zwei Wege: sie konnte die Inkompatibilität zwischen ihr und der Theologie offen eingestehen — das war der Weg der Wahrhaftigkeit; oder aber, sie konnte die handgreifliche Evidenz leugnen, sich selbst und andere betrügen, und das Unver- einbare durch tausend Kniffe und Schliche zwingen, sich doch zu ver- einigen — dies war der Weg der Unwahrhaftigkeit.
Der Weg der Wahrhaftigkeit verzweigt sich gleich anfangs nachDer Weg der Wahrhaftigkeit. verschiedenen Richtungen hin. Er konnte zu einer kühnen, echt pauli- nischen, antirationalistischen Theologie führen, wie Duns Scotus (1274—1308) und Occam († 1343) zeigen. Er konnte zu einer prinzi- piellen Unterordnung der Logik unter das intuitive Gefühl Veranlassung geben, woraus die reiche Skala der mystischen Weltauffassungen hervorging, die, von Franz von Assisi (1182—1226) und Eckhart (1260—1328) ihren Anfang nehmend, zu so weit auseinander weichenden Geistern wie Thomas von Kempen, dem Verfasser der Imitatio Christi (1380—1471) und Paracelsus, dem Begründer einer wissenschaftlichen Medizin (1493—1541) oder Stahl, dem Urheber der neueren Chemie (1660—1734)1) führen sollte. Oder wiederum, es konnte diese rück- sichtslose Wahrhaftigkeit ein Wegwenden von jeder speziellen Be- schäftigung mit christlicher Theologie und den Erwerb einer um- fassenden, freien Weltbildung veranlassen, wie wir das schon bei dem encyklopädischen Albertus Magnus (1193—1280) angedeutet, weiter ausgebildet dann bei den Humanisten finden, z. B. bei Picus von Mirandola (1463—94), der die Wissenschaft der Hellenen für eine ebenso göttliche Offenbarung wie die Bücher der Juden hält und sie darum mit religiösem Feuereifer studiert. Schliesslich aber konnte dieser Weg die in Bezug auf Weltanschauung am tiefsten angelegten Geister dahinführen, die Grundlagen der damals als autoritativ geltenden theo- retischen Philosophie kritisch zu prüfen und zu verwerfen, um dann als freie, verantwortliche Männer an den Aufbau einer neuen, unserem Geiste und unseren Kenntnissen entsprechenden zu schreiten; diese Be- wegung — die eigentlich »philosophische« — geht bei uns überall von der Erforschung der Natur aus. ihre Vertreter sind naturforschende Philosophen oder philosophische Naturforscher; sie hebt mit Roger Bacon (1214—1294) an, schlummert dann lange Zeit, von der Kirche gewalt- sam unterdrückt, erhebt jedoch nach der Erstarkung der Naturwissen-
1) Siehe S. 803.
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[861/0340]
Weltanschauung und Religion.
nun die kirchlichen Dogmen für unanfechtbar galten, gab es für die
Philosophie zunächst zwei Wege: sie konnte die Inkompatibilität
zwischen ihr und der Theologie offen eingestehen — das war der
Weg der Wahrhaftigkeit; oder aber, sie konnte die handgreifliche
Evidenz leugnen, sich selbst und andere betrügen, und das Unver-
einbare durch tausend Kniffe und Schliche zwingen, sich doch zu ver-
einigen — dies war der Weg der Unwahrhaftigkeit.
Der Weg der Wahrhaftigkeit verzweigt sich gleich anfangs nach
verschiedenen Richtungen hin. Er konnte zu einer kühnen, echt pauli-
nischen, antirationalistischen Theologie führen, wie Duns Scotus
(1274—1308) und Occam († 1343) zeigen. Er konnte zu einer prinzi-
piellen Unterordnung der Logik unter das intuitive Gefühl Veranlassung
geben, woraus die reiche Skala der mystischen Weltauffassungen
hervorging, die, von Franz von Assisi (1182—1226) und Eckhart
(1260—1328) ihren Anfang nehmend, zu so weit auseinander weichenden
Geistern wie Thomas von Kempen, dem Verfasser der Imitatio Christi
(1380—1471) und Paracelsus, dem Begründer einer wissenschaftlichen
Medizin (1493—1541) oder Stahl, dem Urheber der neueren Chemie
(1660—1734) 1) führen sollte. Oder wiederum, es konnte diese rück-
sichtslose Wahrhaftigkeit ein Wegwenden von jeder speziellen Be-
schäftigung mit christlicher Theologie und den Erwerb einer um-
fassenden, freien Weltbildung veranlassen, wie wir das schon bei dem
encyklopädischen Albertus Magnus (1193—1280) angedeutet, weiter
ausgebildet dann bei den Humanisten finden, z. B. bei Picus von
Mirandola (1463—94), der die Wissenschaft der Hellenen für eine
ebenso göttliche Offenbarung wie die Bücher der Juden hält und sie
darum mit religiösem Feuereifer studiert. Schliesslich aber konnte dieser
Weg die in Bezug auf Weltanschauung am tiefsten angelegten Geister
dahinführen, die Grundlagen der damals als autoritativ geltenden theo-
retischen Philosophie kritisch zu prüfen und zu verwerfen, um dann
als freie, verantwortliche Männer an den Aufbau einer neuen, unserem
Geiste und unseren Kenntnissen entsprechenden zu schreiten; diese Be-
wegung — die eigentlich »philosophische« — geht bei uns überall von der
Erforschung der Natur aus. ihre Vertreter sind naturforschende
Philosophen oder philosophische Naturforscher; sie hebt mit Roger Bacon
(1214—1294) an, schlummert dann lange Zeit, von der Kirche gewalt-
sam unterdrückt, erhebt jedoch nach der Erstarkung der Naturwissen-
Der Weg der
Wahrhaftigkeit.
1) Siehe S. 803.
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 861. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/340>, abgerufen am 25.11.2024.
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