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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
nommen werden, denn das traurige Vorwalten von abstrakter, allgemein
"menschheitlicher" Prinzipienreiterei an Stelle der staatsmännischen Ein-
sicht in die Bedürfnisse und die Möglichkeiten eines bestimmten Volkes
in einem bestimmten Augenblick wirkte fortan wie alles Schlechte an-
steckend. Hoffentlich kommt der Tag, wo jeder vernünftige Mensch
weiss, wo solche Dinge wie die Declaration hingehören: nämlich in
den Papierkorb.

Rom, Reformation, Revolution: das sind drei Elemente der
Politik, die in der Gegenwart noch immer weiter wirken und darum
hier zu besprechen waren. Die Völker, wie die Individuen, gelangen
bisweilen an Wegscheiden, wo sie sich entschliessen müssen: rechts
oder links. Das war im 16. Jahrhundert der Fall für alle europäische
Nationen (mit Ausnahme Russland's und der unter türkische Herrschaft
gefallenen Slaven); das seitherige Schicksal dieser Nationen wird, bis
herab zum heutigen und morgigen Tage, durch die damals erfolgte
Wahl in den wesentlichsten Dingen bestimmt. Frankreich hat später
gewaltsam Kehrt machen wollen, doch kommt ihm die Revolution
teurer zu stehen als den Deutschen ihr furchtbarer Dreissigjähriger Krieg,
und nimmermehr kann sie ihm das geben, was es sich bei der Refor-
mation entgehen liess. Die Germanen im engeren Sinne des Wortes
-- die Deutschen, die Angelsachsen, die Holländer, die Skandinavier --
in deren Adern noch ein bedeutend reineres Blut fliesst, sehen wir seit
jenem Wendepunkt immer weiter erstarken, woraus wir entnehmen
dürfen, dass die Politik Luther's die richtige Politik war.1)

Die
Angelsachsen.

In dieser Beziehung wäre nun vor Allem die Ausbreitung der
Angelsachsen über die Welt als die vielleicht folgenschwerste politische
Erscheinung der neueren Zeit der besonderen Beachtung wert; doch
hat diese Erscheinung erst im Laufe unseres 19. Jahrhunderts ihre fast
unermessliche Bedeutung zu entfalten begonnen, so dass hier einige
Andeutungen genügen mögen, während das Übrige zur Besprechung
von Gegenwart und Zukunft gehört. Eines fällt hier sofort in die

1) Wie wenig eine derartige Einsicht durch konfessionelle Engherzigkeit ge-
trübt zu werden braucht, beweist die Thatsache, dass Bayern -- heute noch zu-
gleich katholisch und freiheitlich gesinnt -- auf dem Kurfürstentag des Jahres 1640
in allerhand wichtigen Fragen nicht allein mit den Protestanten ging, sondern als
diese, durch charakterlose Fürsten vertreten, ihre Ansprüche fallen liessen, dieselben
wieder aufnahm und sie gegen die meineidigen Habsburger und die schlauen Prä-
laten verfocht. (Vergl. Heinrich Brockhaus: Der Kurfürstentag zu Nürnberg, 1883,
S. 264 fg, 243, 121 fg.)

Die Entstehung einer neuen Welt.
nommen werden, denn das traurige Vorwalten von abstrakter, allgemein
»menschheitlicher« Prinzipienreiterei an Stelle der staatsmännischen Ein-
sicht in die Bedürfnisse und die Möglichkeiten eines bestimmten Volkes
in einem bestimmten Augenblick wirkte fortan wie alles Schlechte an-
steckend. Hoffentlich kommt der Tag, wo jeder vernünftige Mensch
weiss, wo solche Dinge wie die Déclaration hingehören: nämlich in
den Papierkorb.

Rom, Reformation, Revolution: das sind drei Elemente der
Politik, die in der Gegenwart noch immer weiter wirken und darum
hier zu besprechen waren. Die Völker, wie die Individuen, gelangen
bisweilen an Wegscheiden, wo sie sich entschliessen müssen: rechts
oder links. Das war im 16. Jahrhundert der Fall für alle europäische
Nationen (mit Ausnahme Russland’s und der unter türkische Herrschaft
gefallenen Slaven); das seitherige Schicksal dieser Nationen wird, bis
herab zum heutigen und morgigen Tage, durch die damals erfolgte
Wahl in den wesentlichsten Dingen bestimmt. Frankreich hat später
gewaltsam Kehrt machen wollen, doch kommt ihm die Revolution
teurer zu stehen als den Deutschen ihr furchtbarer Dreissigjähriger Krieg,
und nimmermehr kann sie ihm das geben, was es sich bei der Refor-
mation entgehen liess. Die Germanen im engeren Sinne des Wortes
— die Deutschen, die Angelsachsen, die Holländer, die Skandinavier —
in deren Adern noch ein bedeutend reineres Blut fliesst, sehen wir seit
jenem Wendepunkt immer weiter erstarken, woraus wir entnehmen
dürfen, dass die Politik Luther’s die richtige Politik war.1)

Die
Angelsachsen.

In dieser Beziehung wäre nun vor Allem die Ausbreitung der
Angelsachsen über die Welt als die vielleicht folgenschwerste politische
Erscheinung der neueren Zeit der besonderen Beachtung wert; doch
hat diese Erscheinung erst im Laufe unseres 19. Jahrhunderts ihre fast
unermessliche Bedeutung zu entfalten begonnen, so dass hier einige
Andeutungen genügen mögen, während das Übrige zur Besprechung
von Gegenwart und Zukunft gehört. Eines fällt hier sofort in die

1) Wie wenig eine derartige Einsicht durch konfessionelle Engherzigkeit ge-
trübt zu werden braucht, beweist die Thatsache, dass Bayern — heute noch zu-
gleich katholisch und freiheitlich gesinnt — auf dem Kurfürstentag des Jahres 1640
in allerhand wichtigen Fragen nicht allein mit den Protestanten ging, sondern als
diese, durch charakterlose Fürsten vertreten, ihre Ansprüche fallen liessen, dieselben
wieder aufnahm und sie gegen die meineidigen Habsburger und die schlauen Prä-
laten verfocht. (Vergl. Heinrich Brockhaus: Der Kurfürstentag zu Nürnberg, 1883,
S. 264 fg, 243, 121 fg.)
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[854/0333] Die Entstehung einer neuen Welt. nommen werden, denn das traurige Vorwalten von abstrakter, allgemein »menschheitlicher« Prinzipienreiterei an Stelle der staatsmännischen Ein- sicht in die Bedürfnisse und die Möglichkeiten eines bestimmten Volkes in einem bestimmten Augenblick wirkte fortan wie alles Schlechte an- steckend. Hoffentlich kommt der Tag, wo jeder vernünftige Mensch weiss, wo solche Dinge wie die Déclaration hingehören: nämlich in den Papierkorb. Rom, Reformation, Revolution: das sind drei Elemente der Politik, die in der Gegenwart noch immer weiter wirken und darum hier zu besprechen waren. Die Völker, wie die Individuen, gelangen bisweilen an Wegscheiden, wo sie sich entschliessen müssen: rechts oder links. Das war im 16. Jahrhundert der Fall für alle europäische Nationen (mit Ausnahme Russland’s und der unter türkische Herrschaft gefallenen Slaven); das seitherige Schicksal dieser Nationen wird, bis herab zum heutigen und morgigen Tage, durch die damals erfolgte Wahl in den wesentlichsten Dingen bestimmt. Frankreich hat später gewaltsam Kehrt machen wollen, doch kommt ihm die Revolution teurer zu stehen als den Deutschen ihr furchtbarer Dreissigjähriger Krieg, und nimmermehr kann sie ihm das geben, was es sich bei der Refor- mation entgehen liess. Die Germanen im engeren Sinne des Wortes — die Deutschen, die Angelsachsen, die Holländer, die Skandinavier — in deren Adern noch ein bedeutend reineres Blut fliesst, sehen wir seit jenem Wendepunkt immer weiter erstarken, woraus wir entnehmen dürfen, dass die Politik Luther’s die richtige Politik war. 1) In dieser Beziehung wäre nun vor Allem die Ausbreitung der Angelsachsen über die Welt als die vielleicht folgenschwerste politische Erscheinung der neueren Zeit der besonderen Beachtung wert; doch hat diese Erscheinung erst im Laufe unseres 19. Jahrhunderts ihre fast unermessliche Bedeutung zu entfalten begonnen, so dass hier einige Andeutungen genügen mögen, während das Übrige zur Besprechung von Gegenwart und Zukunft gehört. Eines fällt hier sofort in die 1) Wie wenig eine derartige Einsicht durch konfessionelle Engherzigkeit ge- trübt zu werden braucht, beweist die Thatsache, dass Bayern — heute noch zu- gleich katholisch und freiheitlich gesinnt — auf dem Kurfürstentag des Jahres 1640 in allerhand wichtigen Fragen nicht allein mit den Protestanten ging, sondern als diese, durch charakterlose Fürsten vertreten, ihre Ansprüche fallen liessen, dieselben wieder aufnahm und sie gegen die meineidigen Habsburger und die schlauen Prä- laten verfocht. (Vergl. Heinrich Brockhaus: Der Kurfürstentag zu Nürnberg, 1883, S. 264 fg, 243, 121 fg.)

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 854. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/333>, abgerufen am 22.11.2024.