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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
Revolution ausbrach, die Religion geraubt worden, und er fühlte so
wohl, was ihm fehlte, dass er mit rührender Hast und Unerfahrenheit
von allen Seiten sie aufzubauen suchte. Die assemblee nationale hält
ihre Sitzungen sous les auspices de l' Etre supreme ab; die Göttin der
Vernunft wird in Fleisch und Blut -- nebenbei gesagt, ein echt
jesuitischer Einfall -- auf den Altar gehoben; die declaration des
droits de l'homme
ist ein religiöses Bekenntnis: wehe Dem, der es
nicht nachbetet! Noch deutlicher erblicken wir den religiösen Bestand-
teil dieser Bestrebungen in dem schwärmerischesten und einflussreichsten
Geist, unter denen die der Revolution vorgearbeitet haben, in Jean
Jacques Rousseau, dem Idol Robespierre's, einem Manne, dessen
Gemüt von der einen Sehnsucht nach Religion erfüllt gewesen war.1).
Doch in allen diesen Dingen zeigt sich eine derartige Unkenntnis
der Menschennatur, eine solche Seichtigkeit des Denkens, dass man
Kinder oder Tollhäusler am Werke zu sehen glaubt. Durch welche
Verirrung des historischen Urteilsvermögens konnte unser ganzes Jahr-
hundert unter dem Wahne stehen -- und sich davon tief beeinflussen
lassen -- die Franzosen hätten mit ihrer "grossen Revolution" der
Menschheit eine Fackel angezündet? Die Revolution ist der Ausgang
einer Tragödie, die zwei Jahrhunderte gewährt hatte, deren erster Akt
mit der Ermordung Heinrich's IV. schliesst, der zweite mit der Auf-
hebung des Edikts von Nantes, während der dritte mit der Bulle
Unigenitus beginnt und mit der unausbleiblichen Katastrophe endet.
Die Revolution ist nicht der Anfang eines neuen Tages, sondern der
Anfang des Endes. Und wenn auch Manches und Grosses geleistet
wurde, so darf man nicht übersehen, dass das zum nicht geringen
Teil das Werk der Constituante war, in welcher der Marquis de Lafayette,
der Comte de Mirabeau, der Abbe Graf Sieyes, der gelehrte Astronom
Bailly -- -- -- lauter Männer bedeutend durch Bildung und gesell-
schaftliche Stellung, die Führung inne hatten; zum anderen Teil war
es aber das Werk Napoleon's. Dank der Revolution fand dieser merk-
würdige Mann das Werk der Constituante, sowie die staatsmännischen
Pläne der Männer vom Schlage Mirabeau's und Lafayette's vor, sonst
aber tabula rasa; diese Lage nutzte er aus wie nur ein genialer, gänzlich
prinzipienloser und (wenn die Wahrheit gesagt werden darf) wenig tief-

1) Schön und besonders anwendbar auf die Franzosen jener Zeit sind die
Worte, die er seiner Heloise in den Mund legt: "peut-etre vaudrait-il mieux n'avoir
point de religion du tout que d'en avoir une exterieure et manieree, qui sans toucher le
coeur rassure la conscienee" (part. 3, lettre 18.).

Die Entstehung einer neuen Welt.
Revolution ausbrach, die Religion geraubt worden, und er fühlte so
wohl, was ihm fehlte, dass er mit rührender Hast und Unerfahrenheit
von allen Seiten sie aufzubauen suchte. Die assemblée nationale hält
ihre Sitzungen sous les auspices de l’ Être suprême ab; die Göttin der
Vernunft wird in Fleisch und Blut — nebenbei gesagt, ein echt
jesuitischer Einfall — auf den Altar gehoben; die déclaration des
droits de l’homme
ist ein religiöses Bekenntnis: wehe Dem, der es
nicht nachbetet! Noch deutlicher erblicken wir den religiösen Bestand-
teil dieser Bestrebungen in dem schwärmerischesten und einflussreichsten
Geist, unter denen die der Revolution vorgearbeitet haben, in Jean
Jacques Rousseau, dem Idol Robespierre’s, einem Manne, dessen
Gemüt von der einen Sehnsucht nach Religion erfüllt gewesen war.1).
Doch in allen diesen Dingen zeigt sich eine derartige Unkenntnis
der Menschennatur, eine solche Seichtigkeit des Denkens, dass man
Kinder oder Tollhäusler am Werke zu sehen glaubt. Durch welche
Verirrung des historischen Urteilsvermögens konnte unser ganzes Jahr-
hundert unter dem Wahne stehen — und sich davon tief beeinflussen
lassen — die Franzosen hätten mit ihrer »grossen Revolution« der
Menschheit eine Fackel angezündet? Die Revolution ist der Ausgang
einer Tragödie, die zwei Jahrhunderte gewährt hatte, deren erster Akt
mit der Ermordung Heinrich’s IV. schliesst, der zweite mit der Auf-
hebung des Edikts von Nantes, während der dritte mit der Bulle
Unigenitus beginnt und mit der unausbleiblichen Katastrophe endet.
Die Revolution ist nicht der Anfang eines neuen Tages, sondern der
Anfang des Endes. Und wenn auch Manches und Grosses geleistet
wurde, so darf man nicht übersehen, dass das zum nicht geringen
Teil das Werk der Constituante war, in welcher der Marquis de Lafayette,
der Comte de Mirabeau, der Abbé Graf Sieyès, der gelehrte Astronom
Bailly — — — lauter Männer bedeutend durch Bildung und gesell-
schaftliche Stellung, die Führung inne hatten; zum anderen Teil war
es aber das Werk Napoleon’s. Dank der Revolution fand dieser merk-
würdige Mann das Werk der Constituante, sowie die staatsmännischen
Pläne der Männer vom Schlage Mirabeau’s und Lafayette’s vor, sonst
aber tabula rasa; diese Lage nutzte er aus wie nur ein genialer, gänzlich
prinzipienloser und (wenn die Wahrheit gesagt werden darf) wenig tief-

1) Schön und besonders anwendbar auf die Franzosen jener Zeit sind die
Worte, die er seiner Héloïse in den Mund legt: »peut-être vaudrait-il mieux n’avoir
point de religion du tout que d’en avoir une extérieure et maniérée, qui sans toucher le
cœur rassure la conscienee« (part. 3, lettre 18.).
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[852/0331] Die Entstehung einer neuen Welt. Revolution ausbrach, die Religion geraubt worden, und er fühlte so wohl, was ihm fehlte, dass er mit rührender Hast und Unerfahrenheit von allen Seiten sie aufzubauen suchte. Die assemblée nationale hält ihre Sitzungen sous les auspices de l’ Être suprême ab; die Göttin der Vernunft wird in Fleisch und Blut — nebenbei gesagt, ein echt jesuitischer Einfall — auf den Altar gehoben; die déclaration des droits de l’homme ist ein religiöses Bekenntnis: wehe Dem, der es nicht nachbetet! Noch deutlicher erblicken wir den religiösen Bestand- teil dieser Bestrebungen in dem schwärmerischesten und einflussreichsten Geist, unter denen die der Revolution vorgearbeitet haben, in Jean Jacques Rousseau, dem Idol Robespierre’s, einem Manne, dessen Gemüt von der einen Sehnsucht nach Religion erfüllt gewesen war. 1). Doch in allen diesen Dingen zeigt sich eine derartige Unkenntnis der Menschennatur, eine solche Seichtigkeit des Denkens, dass man Kinder oder Tollhäusler am Werke zu sehen glaubt. Durch welche Verirrung des historischen Urteilsvermögens konnte unser ganzes Jahr- hundert unter dem Wahne stehen — und sich davon tief beeinflussen lassen — die Franzosen hätten mit ihrer »grossen Revolution« der Menschheit eine Fackel angezündet? Die Revolution ist der Ausgang einer Tragödie, die zwei Jahrhunderte gewährt hatte, deren erster Akt mit der Ermordung Heinrich’s IV. schliesst, der zweite mit der Auf- hebung des Edikts von Nantes, während der dritte mit der Bulle Unigenitus beginnt und mit der unausbleiblichen Katastrophe endet. Die Revolution ist nicht der Anfang eines neuen Tages, sondern der Anfang des Endes. Und wenn auch Manches und Grosses geleistet wurde, so darf man nicht übersehen, dass das zum nicht geringen Teil das Werk der Constituante war, in welcher der Marquis de Lafayette, der Comte de Mirabeau, der Abbé Graf Sieyès, der gelehrte Astronom Bailly — — — lauter Männer bedeutend durch Bildung und gesell- schaftliche Stellung, die Führung inne hatten; zum anderen Teil war es aber das Werk Napoleon’s. Dank der Revolution fand dieser merk- würdige Mann das Werk der Constituante, sowie die staatsmännischen Pläne der Männer vom Schlage Mirabeau’s und Lafayette’s vor, sonst aber tabula rasa; diese Lage nutzte er aus wie nur ein genialer, gänzlich prinzipienloser und (wenn die Wahrheit gesagt werden darf) wenig tief- 1) Schön und besonders anwendbar auf die Franzosen jener Zeit sind die Worte, die er seiner Héloïse in den Mund legt: »peut-être vaudrait-il mieux n’avoir point de religion du tout que d’en avoir une extérieure et maniérée, qui sans toucher le cœur rassure la conscienee« (part. 3, lettre 18.).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 852. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/331>, abgerufen am 22.11.2024.