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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
kutte niemals völlig abwarf. Einer der namhaften protestantischen
Theologen unseres Jahrhunderts, Paul de Lagarde, sagt von Luther's
Theologie: "In der lutherischen Dogmatik sehen wir das katholisch-
scholastische Gebäude unangetastet vor uns stehen bis auf einzelne
loci, die weggebrochen und durch einen neuen, mit der alten Archi-
tektur nicht durch den Stil, sondern nur durch Mörtel in Verbindung
gebrachten Anbau ersetzt sind";1) und der berühmte Dogmatiker
Adolf Harnack, ebenfalls kein Katholik, bestätigt dieses Urteil, indem
er die lutherische Kirchenlehre (wenigstens in ihrer weiteren Aus-
bildung) "eine kümmerliche Doublette zur katholischen Kirche" nennt.2)
Dies ist von den genannten protestantischen Gelehrten als Tadel ge-
meint; wir aber, vom rein politischen Standpunkt aus die Sache be-
trachtend, werden unmöglich tadeln können, denn wir sehen, dass
diese Beschaffenheit der lutherischen Reform eine Bedingung für den
politischen Erfolg war. Ohne die Fürsten war nichts zu machen.
Wer wird im Ernste behaupten wollen, die reformfreundlichen Fürsten
hätten in und aus religiöser Begeisterung gehandelt? Die Finger einer
einzigen Hand wären schon viel zu zahlreich für diejenigen unter
ihnen, auf welche eine derartige Behauptung allenfalls Anwendung
fände. Politisches Interesse und politischer Ehrgeiz, gestützt auf ein
Erwachen des Nationalitätsbewusstseins, waren massgebend. Doch
waren alle diese Männer, sowie die Nationen alle, in der römischen
Kirche aufgewachsen, deren starker Zauber noch auf ihren Geistern
lag. Indem ihnen Luther nun eine "Doublette" der römischen Kirche
bot, spitzte er die vorhandene Erregung auf ihren politischen Inhalt
zu, ohne die Gewissen mehr als nötig zu beunruhigen. Das Lied,
das mit den Worten:

Ein' feste Burg ist unser Gott

beginnt, endet

Das Reich muss uns doch bleiben.

Das war die rechte Tonart. Und es ist vollkommen falsch, wenn
Lagarde behauptet, "es blieb alles beim Alten". Die Trennung von
Rom, die Luther sein Leben lang mit so ungeheuerer Vehemenz ver-
focht, war die gewaltigste politische Umwälzung, welche überhaupt
stattfinden konnte. Durch sie ist dieser Mann der Angelpunkt der
Weltgeschichte geworden. Denn wie jämmerlich auch der weitere

1) Über das Verhältnis des deutschen Staates zu Theologie, Kirche und Religion.
2) Dogmengeschichte, § 81.

Die Entstehung einer neuen Welt.
kutte niemals völlig abwarf. Einer der namhaften protestantischen
Theologen unseres Jahrhunderts, Paul de Lagarde, sagt von Luther’s
Theologie: »In der lutherischen Dogmatik sehen wir das katholisch-
scholastische Gebäude unangetastet vor uns stehen bis auf einzelne
loci, die weggebrochen und durch einen neuen, mit der alten Archi-
tektur nicht durch den Stil, sondern nur durch Mörtel in Verbindung
gebrachten Anbau ersetzt sind«;1) und der berühmte Dogmatiker
Adolf Harnack, ebenfalls kein Katholik, bestätigt dieses Urteil, indem
er die lutherische Kirchenlehre (wenigstens in ihrer weiteren Aus-
bildung) »eine kümmerliche Doublette zur katholischen Kirche« nennt.2)
Dies ist von den genannten protestantischen Gelehrten als Tadel ge-
meint; wir aber, vom rein politischen Standpunkt aus die Sache be-
trachtend, werden unmöglich tadeln können, denn wir sehen, dass
diese Beschaffenheit der lutherischen Reform eine Bedingung für den
politischen Erfolg war. Ohne die Fürsten war nichts zu machen.
Wer wird im Ernste behaupten wollen, die reformfreundlichen Fürsten
hätten in und aus religiöser Begeisterung gehandelt? Die Finger einer
einzigen Hand wären schon viel zu zahlreich für diejenigen unter
ihnen, auf welche eine derartige Behauptung allenfalls Anwendung
fände. Politisches Interesse und politischer Ehrgeiz, gestützt auf ein
Erwachen des Nationalitätsbewusstseins, waren massgebend. Doch
waren alle diese Männer, sowie die Nationen alle, in der römischen
Kirche aufgewachsen, deren starker Zauber noch auf ihren Geistern
lag. Indem ihnen Luther nun eine »Doublette« der römischen Kirche
bot, spitzte er die vorhandene Erregung auf ihren politischen Inhalt
zu, ohne die Gewissen mehr als nötig zu beunruhigen. Das Lied,
das mit den Worten:

Ein’ feste Burg ist unser Gott

beginnt, endet

Das Reich muss uns doch bleiben.

Das war die rechte Tonart. Und es ist vollkommen falsch, wenn
Lagarde behauptet, »es blieb alles beim Alten«. Die Trennung von
Rom, die Luther sein Leben lang mit so ungeheuerer Vehemenz ver-
focht, war die gewaltigste politische Umwälzung, welche überhaupt
stattfinden konnte. Durch sie ist dieser Mann der Angelpunkt der
Weltgeschichte geworden. Denn wie jämmerlich auch der weitere

1) Über das Verhältnis des deutschen Staates zu Theologie, Kirche und Religion.
2) Dogmengeschichte, § 81.
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[846/0325] Die Entstehung einer neuen Welt. kutte niemals völlig abwarf. Einer der namhaften protestantischen Theologen unseres Jahrhunderts, Paul de Lagarde, sagt von Luther’s Theologie: »In der lutherischen Dogmatik sehen wir das katholisch- scholastische Gebäude unangetastet vor uns stehen bis auf einzelne loci, die weggebrochen und durch einen neuen, mit der alten Archi- tektur nicht durch den Stil, sondern nur durch Mörtel in Verbindung gebrachten Anbau ersetzt sind«; 1) und der berühmte Dogmatiker Adolf Harnack, ebenfalls kein Katholik, bestätigt dieses Urteil, indem er die lutherische Kirchenlehre (wenigstens in ihrer weiteren Aus- bildung) »eine kümmerliche Doublette zur katholischen Kirche« nennt. 2) Dies ist von den genannten protestantischen Gelehrten als Tadel ge- meint; wir aber, vom rein politischen Standpunkt aus die Sache be- trachtend, werden unmöglich tadeln können, denn wir sehen, dass diese Beschaffenheit der lutherischen Reform eine Bedingung für den politischen Erfolg war. Ohne die Fürsten war nichts zu machen. Wer wird im Ernste behaupten wollen, die reformfreundlichen Fürsten hätten in und aus religiöser Begeisterung gehandelt? Die Finger einer einzigen Hand wären schon viel zu zahlreich für diejenigen unter ihnen, auf welche eine derartige Behauptung allenfalls Anwendung fände. Politisches Interesse und politischer Ehrgeiz, gestützt auf ein Erwachen des Nationalitätsbewusstseins, waren massgebend. Doch waren alle diese Männer, sowie die Nationen alle, in der römischen Kirche aufgewachsen, deren starker Zauber noch auf ihren Geistern lag. Indem ihnen Luther nun eine »Doublette« der römischen Kirche bot, spitzte er die vorhandene Erregung auf ihren politischen Inhalt zu, ohne die Gewissen mehr als nötig zu beunruhigen. Das Lied, das mit den Worten: Ein’ feste Burg ist unser Gott beginnt, endet Das Reich muss uns doch bleiben. Das war die rechte Tonart. Und es ist vollkommen falsch, wenn Lagarde behauptet, »es blieb alles beim Alten«. Die Trennung von Rom, die Luther sein Leben lang mit so ungeheuerer Vehemenz ver- focht, war die gewaltigste politische Umwälzung, welche überhaupt stattfinden konnte. Durch sie ist dieser Mann der Angelpunkt der Weltgeschichte geworden. Denn wie jämmerlich auch der weitere 1) Über das Verhältnis des deutschen Staates zu Theologie, Kirche und Religion. 2) Dogmengeschichte, § 81.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 846. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/325>, abgerufen am 22.11.2024.