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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Wirtschaft.

Ich glaube, dass diese Betrachtungen -- natürlich weiter ausgeführtDie Maschine.
und durchdacht -- Manchem für ein besseres Verständnis unserer Zeit
von Nutzen sein werden. Allerdings ist in unserem Jahrhundert ein
neues Element gewaltig umgestaltend hinzugetreten: die Maschine, jene
Maschine, von welcher der soeben genannte gute und gedankenreiche
Sozialist, William Morris, sagt: "Wir sind die Sklaven der Ungeheuer
geworden, die unsere eigene Schöpferkraft geboren hat".1) Die Menge
des Elends, das die Maschine in unserem Jahrhundert verursacht hat, lässt
sich durch keine Ziffern darstellen, sie übersteigt jede Fassungskraft. Es
scheint mir wahrscheinlich, dass unser 19. Jahrhundert das "schmerzens-
reichste" aller bekannten Zeiten war, und zwar hauptsächlich in Folge
des plötzlichen Aufschwunges der Maschine. Im Jahre 1835, kurz
nach der Einführung des Maschinenbetriebes in Indien, berichtete der
Vicekönig: "Das Elend findet kaum eine Parallele in der Geschichte
des Handels. Die Knochen der Baumwollweber bleichen die Ebenen
Indiens."2) Das war im grösseren Masstabe die Wiederholung des-
selben namenlosen Elends, das die Einführung der Maschine überall
heraufbeschworen hat. Schlimmer noch -- denn jener Hungertod trifft
nur die eine Generation -- ist die Herabdrückung Tausender und
Millionen von Menschen aus relativem Wohlstand und aus Unabhängig-
keit zu andauernder Sklaverei, und ihre Vertreibung aus gesundem Land-
leben zum jämmerlichen licht- und luftlosen Dasein der grossen Städte.3)
Und doch darf man bezweifeln, ob diese Umwälzung (abgesehen davon,
dass sie eine viel zahlreichere Bevölkerung traf) grössere Härten und
eine intensivere allgemeine Krisis verursacht hat als der Übergang des
Handels von der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft, oder des Land-

1) Signs of Change, p. 33.
2) Citiert nach May: Wirtschafts- und handelspolitische Rundschau für das
Jahr 1897,
S. 13. -- Harriett Martineau meldet mit bestrickender Naivetät in ihrem
vielgelesenen British rule in India, p. 297, die armen englischen Beamten hätten ihre
übliche allabendliche Lustfahrt einstellen müssen wegen des fürchterlichen Gestankes
der Leichen.
3) Die Arbeiter der Textilindustrien lebten z. B. bis gegen Schluss des vorigen
Jahrhunderts fast alle auf dem Lande und gaben sich zugleich mit Feldarbeiten ab.
Dabei waren sie unvergleichlich besser gestellt als heute (siehe Gibbins: a. a. O.,
S. 154, und man lese auch das achte Kapitel des ersten Buches von Adam Smith's:
Wealth of Nations). Um den heutigen Zustand der Arbeiter vieler Industriezweige
in demjenigen Lande Europa's, welches die besten Löhne zahlt, nämlich England,
kennen zu lernen, empfehle ich R. H. Sherard: The white slaves of England (Die
weissen Sklaven Englands), 1897.
Wirtschaft.

Ich glaube, dass diese Betrachtungen — natürlich weiter ausgeführtDie Maschine.
und durchdacht — Manchem für ein besseres Verständnis unserer Zeit
von Nutzen sein werden. Allerdings ist in unserem Jahrhundert ein
neues Element gewaltig umgestaltend hinzugetreten: die Maschine, jene
Maschine, von welcher der soeben genannte gute und gedankenreiche
Sozialist, William Morris, sagt: »Wir sind die Sklaven der Ungeheuer
geworden, die unsere eigene Schöpferkraft geboren hat«.1) Die Menge
des Elends, das die Maschine in unserem Jahrhundert verursacht hat, lässt
sich durch keine Ziffern darstellen, sie übersteigt jede Fassungskraft. Es
scheint mir wahrscheinlich, dass unser 19. Jahrhundert das »schmerzens-
reichste« aller bekannten Zeiten war, und zwar hauptsächlich in Folge
des plötzlichen Aufschwunges der Maschine. Im Jahre 1835, kurz
nach der Einführung des Maschinenbetriebes in Indien, berichtete der
Vicekönig: »Das Elend findet kaum eine Parallele in der Geschichte
des Handels. Die Knochen der Baumwollweber bleichen die Ebenen
Indiens.«2) Das war im grösseren Masstabe die Wiederholung des-
selben namenlosen Elends, das die Einführung der Maschine überall
heraufbeschworen hat. Schlimmer noch — denn jener Hungertod trifft
nur die eine Generation — ist die Herabdrückung Tausender und
Millionen von Menschen aus relativem Wohlstand und aus Unabhängig-
keit zu andauernder Sklaverei, und ihre Vertreibung aus gesundem Land-
leben zum jämmerlichen licht- und luftlosen Dasein der grossen Städte.3)
Und doch darf man bezweifeln, ob diese Umwälzung (abgesehen davon,
dass sie eine viel zahlreichere Bevölkerung traf) grössere Härten und
eine intensivere allgemeine Krisis verursacht hat als der Übergang des
Handels von der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft, oder des Land-

1) Signs of Change, p. 33.
2) Citiert nach May: Wirtschafts- und handelspolitische Rundschau für das
Jahr 1897,
S. 13. — Harriett Martineau meldet mit bestrickender Naivetät in ihrem
vielgelesenen British rule in India, p. 297, die armen englischen Beamten hätten ihre
übliche allabendliche Lustfahrt einstellen müssen wegen des fürchterlichen Gestankes
der Leichen.
3) Die Arbeiter der Textilindustrien lebten z. B. bis gegen Schluss des vorigen
Jahrhunderts fast alle auf dem Lande und gaben sich zugleich mit Feldarbeiten ab.
Dabei waren sie unvergleichlich besser gestellt als heute (siehe Gibbins: a. a. O.,
S. 154, und man lese auch das achte Kapitel des ersten Buches von Adam Smith’s:
Wealth of Nations). Um den heutigen Zustand der Arbeiter vieler Industriezweige
in demjenigen Lande Europa’s, welches die besten Löhne zahlt, nämlich England,
kennen zu lernen, empfehle ich R. H. Sherard: The white slaves of England (Die
weissen Sklaven Englands), 1897.
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[837/0316] Wirtschaft. Ich glaube, dass diese Betrachtungen — natürlich weiter ausgeführt und durchdacht — Manchem für ein besseres Verständnis unserer Zeit von Nutzen sein werden. Allerdings ist in unserem Jahrhundert ein neues Element gewaltig umgestaltend hinzugetreten: die Maschine, jene Maschine, von welcher der soeben genannte gute und gedankenreiche Sozialist, William Morris, sagt: »Wir sind die Sklaven der Ungeheuer geworden, die unsere eigene Schöpferkraft geboren hat«. 1) Die Menge des Elends, das die Maschine in unserem Jahrhundert verursacht hat, lässt sich durch keine Ziffern darstellen, sie übersteigt jede Fassungskraft. Es scheint mir wahrscheinlich, dass unser 19. Jahrhundert das »schmerzens- reichste« aller bekannten Zeiten war, und zwar hauptsächlich in Folge des plötzlichen Aufschwunges der Maschine. Im Jahre 1835, kurz nach der Einführung des Maschinenbetriebes in Indien, berichtete der Vicekönig: »Das Elend findet kaum eine Parallele in der Geschichte des Handels. Die Knochen der Baumwollweber bleichen die Ebenen Indiens.« 2) Das war im grösseren Masstabe die Wiederholung des- selben namenlosen Elends, das die Einführung der Maschine überall heraufbeschworen hat. Schlimmer noch — denn jener Hungertod trifft nur die eine Generation — ist die Herabdrückung Tausender und Millionen von Menschen aus relativem Wohlstand und aus Unabhängig- keit zu andauernder Sklaverei, und ihre Vertreibung aus gesundem Land- leben zum jämmerlichen licht- und luftlosen Dasein der grossen Städte. 3) Und doch darf man bezweifeln, ob diese Umwälzung (abgesehen davon, dass sie eine viel zahlreichere Bevölkerung traf) grössere Härten und eine intensivere allgemeine Krisis verursacht hat als der Übergang des Handels von der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft, oder des Land- Die Maschine. 1) Signs of Change, p. 33. 2) Citiert nach May: Wirtschafts- und handelspolitische Rundschau für das Jahr 1897, S. 13. — Harriett Martineau meldet mit bestrickender Naivetät in ihrem vielgelesenen British rule in India, p. 297, die armen englischen Beamten hätten ihre übliche allabendliche Lustfahrt einstellen müssen wegen des fürchterlichen Gestankes der Leichen. 3) Die Arbeiter der Textilindustrien lebten z. B. bis gegen Schluss des vorigen Jahrhunderts fast alle auf dem Lande und gaben sich zugleich mit Feldarbeiten ab. Dabei waren sie unvergleichlich besser gestellt als heute (siehe Gibbins: a. a. O., S. 154, und man lese auch das achte Kapitel des ersten Buches von Adam Smith’s: Wealth of Nations). Um den heutigen Zustand der Arbeiter vieler Industriezweige in demjenigen Lande Europa’s, welches die besten Löhne zahlt, nämlich England, kennen zu lernen, empfehle ich R. H. Sherard: The white slaves of England (Die weissen Sklaven Englands), 1897.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 837. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/316>, abgerufen am 25.11.2024.