Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Die Entstehung einer neuen Welt. grösserer Gelassenheit ins Auge zu fassen, die uns heute als etwasunerhört Neues entgegentreten und doch in Wahrheit nur Uraltes in neuer Kleidung, nichts weiter als natürliche, notwendige Erzeugnisse unseres Charakters sind. Die Einen weisen heute auf die grossen Syndikatsbildungen, die Anderen im Gegenteil auf den Sozialismus hin, und glauben, das Weltende herannahen zu sehen: gewiss bringen beide Bewegungen Gefahren, sobald antigermanische Mächte darin die Ober- hand gewinnen,1) doch an und für sich sind es durchaus normale Er- scheinungen, in denen der Pulsschlag unseres wirtschaftlichen Lebens sich kundthut. Selbst ehe die sogenannte Naturalwirtschaft durch die Geldwirtschaft abgelöst worden war, sieht man ähnliche wirtschaftliche Strömungen am Werke: so bedeutet z. B. die Periode der Leibeigenschaft und der Hörigkeit den notwendigen Übergang aus der antiken Sklaven- wirtschaft zu allgemeiner Freiheit -- zweifelsohne eine der grössten Errungenschaften germanischer Civilisation; hier wie anderwärts bei uns hat das egoistische Interesse Einzelner, beziehungsweise einzelner Klassen, das Wohl Aller bereitet, mit anderen Worten, es hat das Monopol der Kooperation vorgearbeitet.2) Sobald aber die Geldwirtschaft eingeführt ist (was im 10. Jahrhundert beginnt, bei uns im Norden im 13. schon grosse Fortschritte gemacht hat und im 15. Jahrhundert vollständig durchgeführt ist), laufen die wirtschaftlichen Verhältnisse wesentlich den heutigen parallel,3) nur dass natürlich neue politische Kombinationen und neue industrielle Errungenschaften den alten Adam neu aufgeputzt zeigen, sowie auch dass die Energie, mit welcher die Gegensätze auf einander stossen, das, was man in der Physik "die Amplitude der Schwingungen" nennt, abwechselnd zu- und abnimmt. Nach Schmoller z. B. war diese "Amplitude" im 13. Jahrhundert mindestens ebenso gross wie im 19., dagegen im 16. bedeutend geringer.4) Den Kapitalis- mus haben wir schon an dem Beispiel der Fugger am Werke gesehen; der Sozialismus war aber viel früher ein wichtiger Bestandteil des Lebens 1) Siehe S. 681 und 682. 2) Dies erhellt besonders deutlich aus den Ausführungen bei Michael: Kultur- zustände des deutschen Volkes während des 13. Jahrhunderts, 1897, I, der ganze Ab- schnitt "Landwirtschaft und Bauern". 3) Dem unter Ungelehrten verbreiteten Glauben, das Papiergeld sei eine der stolzen "Errungenschaften der Neuzeit", ist entgegenzuhalten, dass diese Einrichtung kein germanischer Gedanke ist, sondern schon im alten Karthago und im spät- römischen Imperium üblich gewesen war, wenn auch nicht genau in dieser Form (da es kein Papier gab). 4) Siehe Strassburg's Blüte, von Michael a. a. O. citiert.
Die Entstehung einer neuen Welt. grösserer Gelassenheit ins Auge zu fassen, die uns heute als etwasunerhört Neues entgegentreten und doch in Wahrheit nur Uraltes in neuer Kleidung, nichts weiter als natürliche, notwendige Erzeugnisse unseres Charakters sind. Die Einen weisen heute auf die grossen Syndikatsbildungen, die Anderen im Gegenteil auf den Sozialismus hin, und glauben, das Weltende herannahen zu sehen: gewiss bringen beide Bewegungen Gefahren, sobald antigermanische Mächte darin die Ober- hand gewinnen,1) doch an und für sich sind es durchaus normale Er- scheinungen, in denen der Pulsschlag unseres wirtschaftlichen Lebens sich kundthut. Selbst ehe die sogenannte Naturalwirtschaft durch die Geldwirtschaft abgelöst worden war, sieht man ähnliche wirtschaftliche Strömungen am Werke: so bedeutet z. B. die Periode der Leibeigenschaft und der Hörigkeit den notwendigen Übergang aus der antiken Sklaven- wirtschaft zu allgemeiner Freiheit — zweifelsohne eine der grössten Errungenschaften germanischer Civilisation; hier wie anderwärts bei uns hat das egoistische Interesse Einzelner, beziehungsweise einzelner Klassen, das Wohl Aller bereitet, mit anderen Worten, es hat das Monopol der Kooperation vorgearbeitet.2) Sobald aber die Geldwirtschaft eingeführt ist (was im 10. Jahrhundert beginnt, bei uns im Norden im 13. schon grosse Fortschritte gemacht hat und im 15. Jahrhundert vollständig durchgeführt ist), laufen die wirtschaftlichen Verhältnisse wesentlich den heutigen parallel,3) nur dass natürlich neue politische Kombinationen und neue industrielle Errungenschaften den alten Adam neu aufgeputzt zeigen, sowie auch dass die Energie, mit welcher die Gegensätze auf einander stossen, das, was man in der Physik »die Amplitude der Schwingungen« nennt, abwechselnd zu- und abnimmt. Nach Schmoller z. B. war diese »Amplitude« im 13. Jahrhundert mindestens ebenso gross wie im 19., dagegen im 16. bedeutend geringer.4) Den Kapitalis- mus haben wir schon an dem Beispiel der Fugger am Werke gesehen; der Sozialismus war aber viel früher ein wichtiger Bestandteil des Lebens 1) Siehe S. 681 und 682. 2) Dies erhellt besonders deutlich aus den Ausführungen bei Michael: Kultur- zustände des deutschen Volkes während des 13. Jahrhunderts, 1897, I, der ganze Ab- schnitt »Landwirtschaft und Bauern«. 3) Dem unter Ungelehrten verbreiteten Glauben, das Papiergeld sei eine der stolzen »Errungenschaften der Neuzeit«, ist entgegenzuhalten, dass diese Einrichtung kein germanischer Gedanke ist, sondern schon im alten Karthago und im spät- römischen Imperium üblich gewesen war, wenn auch nicht genau in dieser Form (da es kein Papier gab). 4) Siehe Strassburg’s Blüte, von Michael a. a. O. citiert.
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Die Entstehung einer neuen Welt.
grösserer Gelassenheit ins Auge zu fassen, die uns heute als etwas
unerhört Neues entgegentreten und doch in Wahrheit nur Uraltes in
neuer Kleidung, nichts weiter als natürliche, notwendige Erzeugnisse
unseres Charakters sind. Die Einen weisen heute auf die grossen
Syndikatsbildungen, die Anderen im Gegenteil auf den Sozialismus hin,
und glauben, das Weltende herannahen zu sehen: gewiss bringen beide
Bewegungen Gefahren, sobald antigermanische Mächte darin die Ober-
hand gewinnen, 1) doch an und für sich sind es durchaus normale Er-
scheinungen, in denen der Pulsschlag unseres wirtschaftlichen Lebens
sich kundthut. Selbst ehe die sogenannte Naturalwirtschaft durch die
Geldwirtschaft abgelöst worden war, sieht man ähnliche wirtschaftliche
Strömungen am Werke: so bedeutet z. B. die Periode der Leibeigenschaft
und der Hörigkeit den notwendigen Übergang aus der antiken Sklaven-
wirtschaft zu allgemeiner Freiheit — zweifelsohne eine der grössten
Errungenschaften germanischer Civilisation; hier wie anderwärts bei uns
hat das egoistische Interesse Einzelner, beziehungsweise einzelner Klassen,
das Wohl Aller bereitet, mit anderen Worten, es hat das Monopol der
Kooperation vorgearbeitet. 2) Sobald aber die Geldwirtschaft eingeführt
ist (was im 10. Jahrhundert beginnt, bei uns im Norden im 13. schon
grosse Fortschritte gemacht hat und im 15. Jahrhundert vollständig
durchgeführt ist), laufen die wirtschaftlichen Verhältnisse wesentlich
den heutigen parallel, 3) nur dass natürlich neue politische Kombinationen
und neue industrielle Errungenschaften den alten Adam neu aufgeputzt
zeigen, sowie auch dass die Energie, mit welcher die Gegensätze auf
einander stossen, das, was man in der Physik »die Amplitude der
Schwingungen« nennt, abwechselnd zu- und abnimmt. Nach Schmoller
z. B. war diese »Amplitude« im 13. Jahrhundert mindestens ebenso
gross wie im 19., dagegen im 16. bedeutend geringer. 4) Den Kapitalis-
mus haben wir schon an dem Beispiel der Fugger am Werke gesehen;
der Sozialismus war aber viel früher ein wichtiger Bestandteil des Lebens
1) Siehe S. 681 und 682.
2) Dies erhellt besonders deutlich aus den Ausführungen bei Michael: Kultur-
zustände des deutschen Volkes während des 13. Jahrhunderts, 1897, I, der ganze Ab-
schnitt »Landwirtschaft und Bauern«.
3) Dem unter Ungelehrten verbreiteten Glauben, das Papiergeld sei eine der
stolzen »Errungenschaften der Neuzeit«, ist entgegenzuhalten, dass diese Einrichtung
kein germanischer Gedanke ist, sondern schon im alten Karthago und im spät-
römischen Imperium üblich gewesen war, wenn auch nicht genau in dieser Form
(da es kein Papier gab).
4) Siehe Strassburg’s Blüte, von Michael a. a. O. citiert.
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