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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Wirtschaft.
Nun darf man aber in allen diesen Dingen -- wie überhaupt bei jeder
Betrachtung der Natur -- weder dem abstrakten Theoretisieren, noch
dem blossen Gefühl eine Beeinflussung des Urteils einräumen. Der
berühmte Sozialökonom Jevons schreibt: "Der erste Schritt zum Ver-
ständnis besteht darin, dass wir den Wahn, als gäbe es in sozialen
Dingen abstrakte ,Rechte', ein für allemal verwerfen."1) Und was
das moralische Gefühl anbelangt, so weise ich darauf hin, dass die
Natur überall grausam ist. Unsere Empörung vorhin gegen die ver-
brecherischen Könige, und jetzt gegen den gaunerhaften Adel, ist
nichts gegen die Empörung, welche jedes biologische Studium ein-
flösst. Sittlichkeit ist eben eine ausschliesslich innere, d. h. eine trans-
scendente Intuition; das "Vater vergieb ihnen" findet keinen Beleg
ausserhalb des menschlichen Herzens; daher auch die Absurdität jeder
empirischen, induktiven, antireligiösen Ethik. Lassen wir aber -- wie
es hier unsere Pflicht ist -- das Moralische bei Seite und beschränken
wir uns auf die Bedeutung dieser wirtschaftlichen Entwickelung für
das Leben, so genügt es, ein Fachbuch zur Hand zu nehmen, z. B.
die Geschichte der Landbauwissenschaft von Fraas, und wir sehen
bald ein, dass eine vollkommene Umgestaltung des Landbaues not-
wendig war. Ohne sie hätten wir längst in Europa so wenig zu
essen gehabt, dass wir gezwungen gewesen wären, uns gegenseitig
aufzufressen. Diese kleinen Bauern aber, die gewissermassen ein
kooperatives Netz über die Länder ausbreiteten, hätten die notwendig
gewordene Reform der Landwirtschaft niemals durchgeführt; hierzu
war Kapital, Wissen, Initiative, Hoffnung auf grossen Gewinn nötig.
Nur Männer, die nicht aus der Hand in den Mund leben, sind in
der Lage, derartige Umgestaltungen vorzunehmen; es gehörte auch
dazu die diktatorische Gewalt über grosse Gebiete und zahlreiche Arbeits-

the state, Kap. 2. Man ersieht aus solchen Thatsachen, welche zu hunderten vor-
liegen -- ich will nur das Eine erwähnen, dass der Handwerkerstand noch niemals
so elend gestellt war, wie um die Mitte unseres 19. Jahrhunderts -- wie eigen-
tümlich es um jenen Begriff eines beständigen "Fortschrittes" bestellt ist. Für die
grosse Mehrzahl der Einwohner Europa's war der Entwickelungsgang
der letzten vier Jahrhunderte ein "Fortschritt" zu immer grösserem
Elend.
Übrigens steht sich der Handwerker am Schlusse unseres Jahrhunderts
wieder besser, doch immer noch um etwa 33 % schlechter als in der Mitte des
15. Jahrhunderts (nach den vergleichenden Berechnungen des Vicomte d'Avenel
in der Revue des Deux Mondes vom 15. Juni 1898).
1) The state in relation to labour (nach Herbert Spencer citiert).

Wirtschaft.
Nun darf man aber in allen diesen Dingen — wie überhaupt bei jeder
Betrachtung der Natur — weder dem abstrakten Theoretisieren, noch
dem blossen Gefühl eine Beeinflussung des Urteils einräumen. Der
berühmte Sozialökonom Jevons schreibt: »Der erste Schritt zum Ver-
ständnis besteht darin, dass wir den Wahn, als gäbe es in sozialen
Dingen abstrakte ‚Rechte‛, ein für allemal verwerfen.«1) Und was
das moralische Gefühl anbelangt, so weise ich darauf hin, dass die
Natur überall grausam ist. Unsere Empörung vorhin gegen die ver-
brecherischen Könige, und jetzt gegen den gaunerhaften Adel, ist
nichts gegen die Empörung, welche jedes biologische Studium ein-
flösst. Sittlichkeit ist eben eine ausschliesslich innere, d. h. eine trans-
scendente Intuition; das »Vater vergieb ihnen« findet keinen Beleg
ausserhalb des menschlichen Herzens; daher auch die Absurdität jeder
empirischen, induktiven, antireligiösen Ethik. Lassen wir aber — wie
es hier unsere Pflicht ist — das Moralische bei Seite und beschränken
wir uns auf die Bedeutung dieser wirtschaftlichen Entwickelung für
das Leben, so genügt es, ein Fachbuch zur Hand zu nehmen, z. B.
die Geschichte der Landbauwissenschaft von Fraas, und wir sehen
bald ein, dass eine vollkommene Umgestaltung des Landbaues not-
wendig war. Ohne sie hätten wir längst in Europa so wenig zu
essen gehabt, dass wir gezwungen gewesen wären, uns gegenseitig
aufzufressen. Diese kleinen Bauern aber, die gewissermassen ein
kooperatives Netz über die Länder ausbreiteten, hätten die notwendig
gewordene Reform der Landwirtschaft niemals durchgeführt; hierzu
war Kapital, Wissen, Initiative, Hoffnung auf grossen Gewinn nötig.
Nur Männer, die nicht aus der Hand in den Mund leben, sind in
der Lage, derartige Umgestaltungen vorzunehmen; es gehörte auch
dazu die diktatorische Gewalt über grosse Gebiete und zahlreiche Arbeits-

the state, Kap. 2. Man ersieht aus solchen Thatsachen, welche zu hunderten vor-
liegen — ich will nur das Eine erwähnen, dass der Handwerkerstand noch niemals
so elend gestellt war, wie um die Mitte unseres 19. Jahrhunderts — wie eigen-
tümlich es um jenen Begriff eines beständigen »Fortschrittes« bestellt ist. Für die
grosse Mehrzahl der Einwohner Europa’s war der Entwickelungsgang
der letzten vier Jahrhunderte ein »Fortschritt« zu immer grösserem
Elend.
Übrigens steht sich der Handwerker am Schlusse unseres Jahrhunderts
wieder besser, doch immer noch um etwa 33 % schlechter als in der Mitte des
15. Jahrhunderts (nach den vergleichenden Berechnungen des Vicomte d’Avenel
in der Revue des Deux Mondes vom 15. Juni 1898).
1) The state in relation to labour (nach Herbert Spencer citiert).
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[831/0310] Wirtschaft. Nun darf man aber in allen diesen Dingen — wie überhaupt bei jeder Betrachtung der Natur — weder dem abstrakten Theoretisieren, noch dem blossen Gefühl eine Beeinflussung des Urteils einräumen. Der berühmte Sozialökonom Jevons schreibt: »Der erste Schritt zum Ver- ständnis besteht darin, dass wir den Wahn, als gäbe es in sozialen Dingen abstrakte ‚Rechte‛, ein für allemal verwerfen.« 1) Und was das moralische Gefühl anbelangt, so weise ich darauf hin, dass die Natur überall grausam ist. Unsere Empörung vorhin gegen die ver- brecherischen Könige, und jetzt gegen den gaunerhaften Adel, ist nichts gegen die Empörung, welche jedes biologische Studium ein- flösst. Sittlichkeit ist eben eine ausschliesslich innere, d. h. eine trans- scendente Intuition; das »Vater vergieb ihnen« findet keinen Beleg ausserhalb des menschlichen Herzens; daher auch die Absurdität jeder empirischen, induktiven, antireligiösen Ethik. Lassen wir aber — wie es hier unsere Pflicht ist — das Moralische bei Seite und beschränken wir uns auf die Bedeutung dieser wirtschaftlichen Entwickelung für das Leben, so genügt es, ein Fachbuch zur Hand zu nehmen, z. B. die Geschichte der Landbauwissenschaft von Fraas, und wir sehen bald ein, dass eine vollkommene Umgestaltung des Landbaues not- wendig war. Ohne sie hätten wir längst in Europa so wenig zu essen gehabt, dass wir gezwungen gewesen wären, uns gegenseitig aufzufressen. Diese kleinen Bauern aber, die gewissermassen ein kooperatives Netz über die Länder ausbreiteten, hätten die notwendig gewordene Reform der Landwirtschaft niemals durchgeführt; hierzu war Kapital, Wissen, Initiative, Hoffnung auf grossen Gewinn nötig. Nur Männer, die nicht aus der Hand in den Mund leben, sind in der Lage, derartige Umgestaltungen vorzunehmen; es gehörte auch dazu die diktatorische Gewalt über grosse Gebiete und zahlreiche Arbeits- 3) 1) The state in relation to labour (nach Herbert Spencer citiert). 3) the state, Kap. 2. Man ersieht aus solchen Thatsachen, welche zu hunderten vor- liegen — ich will nur das Eine erwähnen, dass der Handwerkerstand noch niemals so elend gestellt war, wie um die Mitte unseres 19. Jahrhunderts — wie eigen- tümlich es um jenen Begriff eines beständigen »Fortschrittes« bestellt ist. Für die grosse Mehrzahl der Einwohner Europa’s war der Entwickelungsgang der letzten vier Jahrhunderte ein »Fortschritt« zu immer grösserem Elend. Übrigens steht sich der Handwerker am Schlusse unseres Jahrhunderts wieder besser, doch immer noch um etwa 33 % schlechter als in der Mitte des 15. Jahrhunderts (nach den vergleichenden Berechnungen des Vicomte d’Avenel in der Revue des Deux Mondes vom 15. Juni 1898).

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 831. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/310>, abgerufen am 22.11.2024.