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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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transscendental-spekulativer Denkweise",1) durch den ewig denkwürdigen
Georg Ernst Stahl. Er war nicht Chemiker von Fach, er sah aber
was fehlte: ein Element! Konnte dessen Existenz nachgewiesen werden?
Nein, damals nicht. Sollte ein kühner germanischer Geist deswegen
zurückschrecken? Gottlob, nein! Also erfand Stahl aus eigener Macht-
vollkommenheit ein imaginäres Element und nannte es Phlogiston.
Und jetzt war auf einmal Licht im Chaos; jetzt hatte der Germane
den Zauberaberglauben in einer seiner letzten Vesten zerstört und die
Salamander auf immer erdrosselt. Durch die Aufstellung eines
rein mechanischen Prinzips waren nunmehr die Menschen befähigt,
den Vorgang der Verbrennung sich richtig vorzustellen, d. h. jenes
zweite x, den zweiten Brennpunkt zu finden, oder ihm mindestens
nahe zu kommen, so dass sie beginnen konnten, die menschlich be-
greifliche Ellipse zu ziehen. "Die Phlogistontheorie gab der Ent-
wickelung der wissenschaftlichen Chemie einen mächtigen Antrieb,
denn nie zuvor war eine solche Anzahl chemischer Thatsachen als
analoge Vorgänge zusammengefasst und in so klarer und einfacher
Weise miteinander verknüpft worden".2) Wenn das nicht ein Werk
der Phantasie ist, haben Worte keinen Sinn mehr. Doch muss man
zugleich beachten, dass hier mehr der theoretisierende Verstand als die
Anschauung am Werke gewesen war. Boyle war ein geradezu fabel-
haft feiner Beobachter gewesen; Stahl dagegen war zwar ein eminent
scharfer, erfindungsreicher Kopf, doch ein schlechter Beobachter. Der
angedeutete Unterschied erhellt hier mit besonderer Deutlichkeit; denn
diesem Einfall des Phlogistons -- der das ganze vorige Jahrhundert
beherrschte, der seinem Verkünder den Ehrentitel eines Begründers
der wissenschaftlichen Chemie eintrug und in dessen Licht thatsächlich
alle Fundamente zu unserer späteren, der Natur besser entsprechenden
Theorie gelegt wurden -- diesem Einfall lagen (neben der theore-
tischen Verwertung von Boyle's Idee) flagrant falsche Beobachtungen
zu Grunde! Stahl meinte, die Verbrennung sei ein Zersetzungs-
vorgang; statt dessen ist sie ein Vereinigungsprozess. Dass bei Ver-
brennung eine Gewichtszunahme stattfindet, war aus verschiedenen
Versuchen zu seiner Zeit schon bekannt; trotzdem nahm Stahl (der,
wie gesagt, ein sehr unzuverlässiger Beobachter war, und den beson-

1) Diese Worte entnehme ich Hirschel's Geschichte der Medizin, 2. Ausg.,
S. 260; ich besitze eine Anzahl chemischer Bücher, doch berichtet keines über
Stahl's geistige Anlagen, dazu sind ihre Verfasser viel zu nüchterne Handwerker.
2) Roscoe und Schorlemmer: Ausführliches Lehrbuch der Chemie, 1877, I, 10.

Wissenschaft.
transscendental-spekulativer Denkweise«,1) durch den ewig denkwürdigen
Georg Ernst Stahl. Er war nicht Chemiker von Fach, er sah aber
was fehlte: ein Element! Konnte dessen Existenz nachgewiesen werden?
Nein, damals nicht. Sollte ein kühner germanischer Geist deswegen
zurückschrecken? Gottlob, nein! Also erfand Stahl aus eigener Macht-
vollkommenheit ein imaginäres Element und nannte es Phlogiston.
Und jetzt war auf einmal Licht im Chaos; jetzt hatte der Germane
den Zauberaberglauben in einer seiner letzten Vesten zerstört und die
Salamander auf immer erdrosselt. Durch die Aufstellung eines
rein mechanischen Prinzips waren nunmehr die Menschen befähigt,
den Vorgang der Verbrennung sich richtig vorzustellen, d. h. jenes
zweite x, den zweiten Brennpunkt zu finden, oder ihm mindestens
nahe zu kommen, so dass sie beginnen konnten, die menschlich be-
greifliche Ellipse zu ziehen. »Die Phlogistontheorie gab der Ent-
wickelung der wissenschaftlichen Chemie einen mächtigen Antrieb,
denn nie zuvor war eine solche Anzahl chemischer Thatsachen als
analoge Vorgänge zusammengefasst und in so klarer und einfacher
Weise miteinander verknüpft worden«.2) Wenn das nicht ein Werk
der Phantasie ist, haben Worte keinen Sinn mehr. Doch muss man
zugleich beachten, dass hier mehr der theoretisierende Verstand als die
Anschauung am Werke gewesen war. Boyle war ein geradezu fabel-
haft feiner Beobachter gewesen; Stahl dagegen war zwar ein eminent
scharfer, erfindungsreicher Kopf, doch ein schlechter Beobachter. Der
angedeutete Unterschied erhellt hier mit besonderer Deutlichkeit; denn
diesem Einfall des Phlogistons — der das ganze vorige Jahrhundert
beherrschte, der seinem Verkünder den Ehrentitel eines Begründers
der wissenschaftlichen Chemie eintrug und in dessen Licht thatsächlich
alle Fundamente zu unserer späteren, der Natur besser entsprechenden
Theorie gelegt wurden — diesem Einfall lagen (neben der theore-
tischen Verwertung von Boyle’s Idee) flagrant falsche Beobachtungen
zu Grunde! Stahl meinte, die Verbrennung sei ein Zersetzungs-
vorgang; statt dessen ist sie ein Vereinigungsprozess. Dass bei Ver-
brennung eine Gewichtszunahme stattfindet, war aus verschiedenen
Versuchen zu seiner Zeit schon bekannt; trotzdem nahm Stahl (der,
wie gesagt, ein sehr unzuverlässiger Beobachter war, und den beson-

1) Diese Worte entnehme ich Hirschel’s Geschichte der Medizin, 2. Ausg.,
S. 260; ich besitze eine Anzahl chemischer Bücher, doch berichtet keines über
Stahl’s geistige Anlagen, dazu sind ihre Verfasser viel zu nüchterne Handwerker.
2) Roscoe und Schorlemmer: Ausführliches Lehrbuch der Chemie, 1877, I, 10.
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[803/0282] Wissenschaft. transscendental-spekulativer Denkweise«, 1) durch den ewig denkwürdigen Georg Ernst Stahl. Er war nicht Chemiker von Fach, er sah aber was fehlte: ein Element! Konnte dessen Existenz nachgewiesen werden? Nein, damals nicht. Sollte ein kühner germanischer Geist deswegen zurückschrecken? Gottlob, nein! Also erfand Stahl aus eigener Macht- vollkommenheit ein imaginäres Element und nannte es Phlogiston. Und jetzt war auf einmal Licht im Chaos; jetzt hatte der Germane den Zauberaberglauben in einer seiner letzten Vesten zerstört und die Salamander auf immer erdrosselt. Durch die Aufstellung eines rein mechanischen Prinzips waren nunmehr die Menschen befähigt, den Vorgang der Verbrennung sich richtig vorzustellen, d. h. jenes zweite x, den zweiten Brennpunkt zu finden, oder ihm mindestens nahe zu kommen, so dass sie beginnen konnten, die menschlich be- greifliche Ellipse zu ziehen. »Die Phlogistontheorie gab der Ent- wickelung der wissenschaftlichen Chemie einen mächtigen Antrieb, denn nie zuvor war eine solche Anzahl chemischer Thatsachen als analoge Vorgänge zusammengefasst und in so klarer und einfacher Weise miteinander verknüpft worden«. 2) Wenn das nicht ein Werk der Phantasie ist, haben Worte keinen Sinn mehr. Doch muss man zugleich beachten, dass hier mehr der theoretisierende Verstand als die Anschauung am Werke gewesen war. Boyle war ein geradezu fabel- haft feiner Beobachter gewesen; Stahl dagegen war zwar ein eminent scharfer, erfindungsreicher Kopf, doch ein schlechter Beobachter. Der angedeutete Unterschied erhellt hier mit besonderer Deutlichkeit; denn diesem Einfall des Phlogistons — der das ganze vorige Jahrhundert beherrschte, der seinem Verkünder den Ehrentitel eines Begründers der wissenschaftlichen Chemie eintrug und in dessen Licht thatsächlich alle Fundamente zu unserer späteren, der Natur besser entsprechenden Theorie gelegt wurden — diesem Einfall lagen (neben der theore- tischen Verwertung von Boyle’s Idee) flagrant falsche Beobachtungen zu Grunde! Stahl meinte, die Verbrennung sei ein Zersetzungs- vorgang; statt dessen ist sie ein Vereinigungsprozess. Dass bei Ver- brennung eine Gewichtszunahme stattfindet, war aus verschiedenen Versuchen zu seiner Zeit schon bekannt; trotzdem nahm Stahl (der, wie gesagt, ein sehr unzuverlässiger Beobachter war, und den beson- 1) Diese Worte entnehme ich Hirschel’s Geschichte der Medizin, 2. Ausg., S. 260; ich besitze eine Anzahl chemischer Bücher, doch berichtet keines über Stahl’s geistige Anlagen, dazu sind ihre Verfasser viel zu nüchterne Handwerker. 2) Roscoe und Schorlemmer: Ausführliches Lehrbuch der Chemie, 1877, I, 10.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 803. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/282>, abgerufen am 22.11.2024.