Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Wissenschaft.
Gedanken vorausgehen. Doch, welche Vorsicht ist hier nicht nötig!
Aristoteles hatte über den Fall der Körper experimentirt; an Scharfsinn
fehlte es ihm wahrlich nicht; doch die "vorhergehende Theorie" machte,
dass er falsch beobachtete, total falsch. Und nehmen wir nun Galilei's
Discorsi zur Hand, so werden wir aus dem fingierten Gespräch zwischen
Simplicio, Sagredo und Salviati die Überzeugung gewinnen, dass an
der Entdeckung des wahren Fallgesetzes die gewissenhafte, möglichst
voraussetzungslose Beobachtung den Löwenanteil gehabt hat, und die
eigentlichen Theorien viel eher hinterdreingekommen als "vorherge-
gangen" sind. Hier liegt, meine ich, eine Konfusion seitens Liebig's
vor, und wo ein so bedeutender, auch um die Geschichte der Wissen-
schaft verdienter Mann irrt, werden wir voraussetzen dürfen, dass nur
aus der feinsten Analyse wahres Verständnis hervorgehen kann. Und
zwar ist dieses Verständnis um so unentbehrlicher, als wir erst aus
ihm die Bedeutung des Genialen für die Wissenschaft und ihre
Geschichte erkennen lernen. Das soll hier versucht werden.

Liebig schreibt: "eine Theorie, d. h. eine Idee"; er setzt also,
wie man sieht, "Theorie" gleich "Idee", was eine erste Quelle des
Irrtums ist. Das griechische Wort Idee -- welches in eine moderne
Sprache lebendig zu übertragen allerdings nie gelungen ist -- bedeutet
ausschliesslich ein mit den Augen Geschautes, eine Erscheinung, eine
Gestalt; auch Plato versteht unter Idee so sehr die Quintessenz des
Sichtbaren, dass ihm das einzelne Individuum zu blass erscheint, um
für mehr als den Schatten einer wahren Idee gehalten zu werden.1)
Theorie dagegen hiess schon im Anfang nicht das Anschauen, sondern
das Zuschauen -- ein gewaltiger Unterschied, der in der Folge immer
zunahm, bis die Bedeutung einer willkürlichen, subjektiven Auffassung,
eines künstlichen Zurechtlegens dem Wort "Theorie" zu eigen geworden
war. Theorie und Idee sind also nicht synonym. Als John Ray durch
vieles Beobachten ein so klares Bild der Gesamtheit der blühenden
Pflanzen erlangt hatte, dass er deutlich wahrnahm, sie bildeten zwei
grosse Gruppen, hatte er eine Idee; dagegen als er seinen Methodus
plantarum
(1703) veröffentlichte, stellte er eine Theorie auf und
zwar eine Theorie, die weit hinter seiner Idee zurückblieb; denn hatte
er auch die Bedeutung der Samenlappen als Wegweiser für die Syste-

1) Man glaubt Plato's Ideen seien Abstraktionen; ganz im Gegenteil, für
ihn sind sie allein das Konkrete, aus dem die Erscheinungen der empirischen Welt
abstrahiert sind. Es ist das Paradoxon eines nach intensivster Anschauung sich
sehnenden Geistes.
51*

Wissenschaft.
Gedanken vorausgehen. Doch, welche Vorsicht ist hier nicht nötig!
Aristoteles hatte über den Fall der Körper experimentirt; an Scharfsinn
fehlte es ihm wahrlich nicht; doch die »vorhergehende Theorie« machte,
dass er falsch beobachtete, total falsch. Und nehmen wir nun Galilei’s
Discorsi zur Hand, so werden wir aus dem fingierten Gespräch zwischen
Simplicio, Sagredo und Salviati die Überzeugung gewinnen, dass an
der Entdeckung des wahren Fallgesetzes die gewissenhafte, möglichst
voraussetzungslose Beobachtung den Löwenanteil gehabt hat, und die
eigentlichen Theorien viel eher hinterdreingekommen als »vorherge-
gangen« sind. Hier liegt, meine ich, eine Konfusion seitens Liebig’s
vor, und wo ein so bedeutender, auch um die Geschichte der Wissen-
schaft verdienter Mann irrt, werden wir voraussetzen dürfen, dass nur
aus der feinsten Analyse wahres Verständnis hervorgehen kann. Und
zwar ist dieses Verständnis um so unentbehrlicher, als wir erst aus
ihm die Bedeutung des Genialen für die Wissenschaft und ihre
Geschichte erkennen lernen. Das soll hier versucht werden.

Liebig schreibt: »eine Theorie, d. h. eine Idee«; er setzt also,
wie man sieht, »Theorie« gleich »Idee«, was eine erste Quelle des
Irrtums ist. Das griechische Wort Idee — welches in eine moderne
Sprache lebendig zu übertragen allerdings nie gelungen ist — bedeutet
ausschliesslich ein mit den Augen Geschautes, eine Erscheinung, eine
Gestalt; auch Plato versteht unter Idee so sehr die Quintessenz des
Sichtbaren, dass ihm das einzelne Individuum zu blass erscheint, um
für mehr als den Schatten einer wahren Idee gehalten zu werden.1)
Theorie dagegen hiess schon im Anfang nicht das Anschauen, sondern
das Zuschauen — ein gewaltiger Unterschied, der in der Folge immer
zunahm, bis die Bedeutung einer willkürlichen, subjektiven Auffassung,
eines künstlichen Zurechtlegens dem Wort »Theorie« zu eigen geworden
war. Theorie und Idee sind also nicht synonym. Als John Ray durch
vieles Beobachten ein so klares Bild der Gesamtheit der blühenden
Pflanzen erlangt hatte, dass er deutlich wahrnahm, sie bildeten zwei
grosse Gruppen, hatte er eine Idee; dagegen als er seinen Methodus
plantarum
(1703) veröffentlichte, stellte er eine Theorie auf und
zwar eine Theorie, die weit hinter seiner Idee zurückblieb; denn hatte
er auch die Bedeutung der Samenlappen als Wegweiser für die Syste-

1) Man glaubt Plato’s Ideen seien Abstraktionen; ganz im Gegenteil, für
ihn sind sie allein das Konkrete, aus dem die Erscheinungen der empirischen Welt
abstrahiert sind. Es ist das Paradoxon eines nach intensivster Anschauung sich
sehnenden Geistes.
51*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0274" n="795"/><fw place="top" type="header">Wissenschaft.</fw><lb/>
Gedanken vorausgehen. Doch, welche Vorsicht ist hier nicht nötig!<lb/>
Aristoteles hatte über den Fall der Körper experimentirt; an Scharfsinn<lb/>
fehlte es ihm wahrlich nicht; doch die »vorhergehende Theorie« machte,<lb/>
dass er falsch beobachtete, total falsch. Und nehmen wir nun Galilei&#x2019;s<lb/><hi rendition="#i">Discorsi</hi> zur Hand, so werden wir aus dem fingierten Gespräch zwischen<lb/>
Simplicio, Sagredo und Salviati die Überzeugung gewinnen, dass an<lb/>
der Entdeckung des wahren Fallgesetzes die gewissenhafte, möglichst<lb/>
voraussetzungslose Beobachtung den Löwenanteil gehabt hat, und die<lb/>
eigentlichen Theorien viel eher hinterdreingekommen als »vorherge-<lb/>
gangen« sind. Hier liegt, meine ich, eine Konfusion seitens Liebig&#x2019;s<lb/>
vor, und wo ein so bedeutender, auch um die Geschichte der Wissen-<lb/>
schaft verdienter Mann irrt, werden wir voraussetzen dürfen, dass nur<lb/>
aus der feinsten Analyse wahres Verständnis hervorgehen kann. Und<lb/>
zwar ist dieses Verständnis um so unentbehrlicher, als wir erst aus<lb/>
ihm die Bedeutung des <hi rendition="#g">Genialen</hi> für die Wissenschaft und ihre<lb/>
Geschichte erkennen lernen. Das soll hier versucht werden.</p><lb/>
              <p>Liebig schreibt: »eine Theorie, d. h. eine Idee«; er setzt also,<lb/>
wie man sieht, »Theorie« gleich »Idee«, was eine erste Quelle des<lb/>
Irrtums ist. Das griechische Wort Idee &#x2014; welches in eine moderne<lb/>
Sprache lebendig zu übertragen allerdings nie gelungen ist &#x2014; bedeutet<lb/>
ausschliesslich ein mit den Augen Geschautes, eine Erscheinung, eine<lb/>
Gestalt; auch Plato versteht unter Idee so sehr die Quintessenz des<lb/>
Sichtbaren, dass ihm das einzelne Individuum zu blass erscheint, um<lb/>
für mehr als den Schatten einer wahren Idee gehalten zu werden.<note place="foot" n="1)">Man glaubt Plato&#x2019;s Ideen seien Abstraktionen; ganz im Gegenteil, für<lb/>
ihn sind sie allein das Konkrete, aus dem die Erscheinungen der empirischen Welt<lb/>
abstrahiert sind. Es ist das Paradoxon eines nach intensivster Anschauung sich<lb/>
sehnenden Geistes.</note><lb/>
Theorie dagegen hiess schon im Anfang nicht das Anschauen, sondern<lb/>
das Zuschauen &#x2014; ein gewaltiger Unterschied, der in der Folge immer<lb/>
zunahm, bis die Bedeutung einer willkürlichen, subjektiven Auffassung,<lb/>
eines künstlichen Zurechtlegens dem Wort »Theorie« zu eigen geworden<lb/>
war. Theorie und Idee sind also nicht synonym. Als John Ray durch<lb/>
vieles Beobachten ein so klares Bild der Gesamtheit der blühenden<lb/>
Pflanzen erlangt hatte, dass er deutlich wahrnahm, sie bildeten zwei<lb/>
grosse Gruppen, hatte er eine Idee; dagegen als er seinen <hi rendition="#i">Methodus<lb/>
plantarum</hi> (1703) veröffentlichte, stellte er eine Theorie auf und<lb/>
zwar eine Theorie, die weit hinter seiner Idee zurückblieb; denn hatte<lb/>
er auch die Bedeutung der Samenlappen als Wegweiser für die Syste-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">51*</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[795/0274] Wissenschaft. Gedanken vorausgehen. Doch, welche Vorsicht ist hier nicht nötig! Aristoteles hatte über den Fall der Körper experimentirt; an Scharfsinn fehlte es ihm wahrlich nicht; doch die »vorhergehende Theorie« machte, dass er falsch beobachtete, total falsch. Und nehmen wir nun Galilei’s Discorsi zur Hand, so werden wir aus dem fingierten Gespräch zwischen Simplicio, Sagredo und Salviati die Überzeugung gewinnen, dass an der Entdeckung des wahren Fallgesetzes die gewissenhafte, möglichst voraussetzungslose Beobachtung den Löwenanteil gehabt hat, und die eigentlichen Theorien viel eher hinterdreingekommen als »vorherge- gangen« sind. Hier liegt, meine ich, eine Konfusion seitens Liebig’s vor, und wo ein so bedeutender, auch um die Geschichte der Wissen- schaft verdienter Mann irrt, werden wir voraussetzen dürfen, dass nur aus der feinsten Analyse wahres Verständnis hervorgehen kann. Und zwar ist dieses Verständnis um so unentbehrlicher, als wir erst aus ihm die Bedeutung des Genialen für die Wissenschaft und ihre Geschichte erkennen lernen. Das soll hier versucht werden. Liebig schreibt: »eine Theorie, d. h. eine Idee«; er setzt also, wie man sieht, »Theorie« gleich »Idee«, was eine erste Quelle des Irrtums ist. Das griechische Wort Idee — welches in eine moderne Sprache lebendig zu übertragen allerdings nie gelungen ist — bedeutet ausschliesslich ein mit den Augen Geschautes, eine Erscheinung, eine Gestalt; auch Plato versteht unter Idee so sehr die Quintessenz des Sichtbaren, dass ihm das einzelne Individuum zu blass erscheint, um für mehr als den Schatten einer wahren Idee gehalten zu werden. 1) Theorie dagegen hiess schon im Anfang nicht das Anschauen, sondern das Zuschauen — ein gewaltiger Unterschied, der in der Folge immer zunahm, bis die Bedeutung einer willkürlichen, subjektiven Auffassung, eines künstlichen Zurechtlegens dem Wort »Theorie« zu eigen geworden war. Theorie und Idee sind also nicht synonym. Als John Ray durch vieles Beobachten ein so klares Bild der Gesamtheit der blühenden Pflanzen erlangt hatte, dass er deutlich wahrnahm, sie bildeten zwei grosse Gruppen, hatte er eine Idee; dagegen als er seinen Methodus plantarum (1703) veröffentlichte, stellte er eine Theorie auf und zwar eine Theorie, die weit hinter seiner Idee zurückblieb; denn hatte er auch die Bedeutung der Samenlappen als Wegweiser für die Syste- 1) Man glaubt Plato’s Ideen seien Abstraktionen; ganz im Gegenteil, für ihn sind sie allein das Konkrete, aus dem die Erscheinungen der empirischen Welt abstrahiert sind. Es ist das Paradoxon eines nach intensivster Anschauung sich sehnenden Geistes. 51*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/274
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 795. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/274>, abgerufen am 25.08.2024.