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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
staltung des Wissens, auf alle Gebiete aus; selbst die Religionen werden
jetzt zu Ordnungen, Gattungen und Arten zusammengefasst. Das
Durchdringen der an der Botanik exemplifizierten Methode bildet überall
das Rückgrat unserer geschichtlichen Entwickelung im Wissenschaft-
lichen zwischen 1200 und 1800. In Physik, Chemie und Physiologie,
sowie in allen verwandten Zweigen walten dieselben Prinzipien vor.
Schliesslich muss alles Wissen systematisiert werden, um Wissenschaft
zu werden; wir treffen also immer und überall Systematik an. Bichat's
Gewebelehre -- welche einen Erfolg anatomischer Entdeckungen und
zugleich die Quelle zu neuen Entdeckungen bedeutet -- ist ein Bei-
spiel, dessen genaue Analogie mit John Ray's Begründung des so-
genannten natürlichen Pflanzensystems und der weiteren Geschichte
dieser Disciplin sofort in die Augen fällt. Überall sehen wir peinlich
genaues Beobachten, gefolgt von kühnem, schöpferischem, doch nicht
dogmatischem Theoretisieren.

Idee und
Theorie.

Ehe ich diesen Abschnitt schliesse, möchte ich aber noch einen
Schritt weiter gehen, sonst fehlt eine sehr wichtige Einsicht unter
denen, die als leitende für das Verständnis der Geschichte unserer
Wissenschaft, sowie für das Verständnis der Wissenschaft unseres
Jahrhunderts zu dienen haben. Wir müssen noch etwas tiefer in Wesen
und Wert des wissenschaftlichen Theoretisierens eindringen, und zwar
wird das am besten durch Anknüpfung an das Experiment geschehen,
an jene unvergleichliche Waffe germanischer Wissenschaft. Doch
handelt es sich lediglich um eine Anknüpfung, denn das Experiment
ist nur einigen Disciplinen eigen, während ich hier tiefer zu greifen
habe, um gewisse leitende Prinzipien aller neueren Wissenschaften
aufzudecken.

Das Experiment ist zunächst einfach "methodisches" Beobachten.
Es ist aber zugleich theoretisches Beobachten.1) Daher erfordert seine
richtige Anwendung philosophische Überlegung, sonst wird leicht aus
dem Experiment weniger die Natur als der Experimentator reden.
"Ein Experiment, dem nicht eine Theorie, d. h. eine Idee vorher-
geht, verhält sich zur Naturforschung wie das Rasseln mit einer Kinder-
klapper zur Musik", sagt Liebig, und in höchst geistreicher Weise ver-
gleicht er den Versuch mit der Rechnung: in beiden Fällen müssen

1) Kant sagt über das Experiment: "die Vernunft sieht nur das ein, was sie
selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, sie muss mit Prinzipien ihrer Urteile nach
beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen, auf ihre Fragen zu ant-
worten." (Vorrede zur zweiten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft).

Die Entstehung einer neuen Welt.
staltung des Wissens, auf alle Gebiete aus; selbst die Religionen werden
jetzt zu Ordnungen, Gattungen und Arten zusammengefasst. Das
Durchdringen der an der Botanik exemplifizierten Methode bildet überall
das Rückgrat unserer geschichtlichen Entwickelung im Wissenschaft-
lichen zwischen 1200 und 1800. In Physik, Chemie und Physiologie,
sowie in allen verwandten Zweigen walten dieselben Prinzipien vor.
Schliesslich muss alles Wissen systematisiert werden, um Wissenschaft
zu werden; wir treffen also immer und überall Systematik an. Bichat’s
Gewebelehre — welche einen Erfolg anatomischer Entdeckungen und
zugleich die Quelle zu neuen Entdeckungen bedeutet — ist ein Bei-
spiel, dessen genaue Analogie mit John Ray’s Begründung des so-
genannten natürlichen Pflanzensystems und der weiteren Geschichte
dieser Disciplin sofort in die Augen fällt. Überall sehen wir peinlich
genaues Beobachten, gefolgt von kühnem, schöpferischem, doch nicht
dogmatischem Theoretisieren.

Idee und
Theorie.

Ehe ich diesen Abschnitt schliesse, möchte ich aber noch einen
Schritt weiter gehen, sonst fehlt eine sehr wichtige Einsicht unter
denen, die als leitende für das Verständnis der Geschichte unserer
Wissenschaft, sowie für das Verständnis der Wissenschaft unseres
Jahrhunderts zu dienen haben. Wir müssen noch etwas tiefer in Wesen
und Wert des wissenschaftlichen Theoretisierens eindringen, und zwar
wird das am besten durch Anknüpfung an das Experiment geschehen,
an jene unvergleichliche Waffe germanischer Wissenschaft. Doch
handelt es sich lediglich um eine Anknüpfung, denn das Experiment
ist nur einigen Disciplinen eigen, während ich hier tiefer zu greifen
habe, um gewisse leitende Prinzipien aller neueren Wissenschaften
aufzudecken.

Das Experiment ist zunächst einfach »methodisches« Beobachten.
Es ist aber zugleich theoretisches Beobachten.1) Daher erfordert seine
richtige Anwendung philosophische Überlegung, sonst wird leicht aus
dem Experiment weniger die Natur als der Experimentator reden.
»Ein Experiment, dem nicht eine Theorie, d. h. eine Idee vorher-
geht, verhält sich zur Naturforschung wie das Rasseln mit einer Kinder-
klapper zur Musik«, sagt Liebig, und in höchst geistreicher Weise ver-
gleicht er den Versuch mit der Rechnung: in beiden Fällen müssen

1) Kant sagt über das Experiment: »die Vernunft sieht nur das ein, was sie
selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, sie muss mit Prinzipien ihrer Urteile nach
beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen, auf ihre Fragen zu ant-
worten.« (Vorrede zur zweiten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft).
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[794/0273] Die Entstehung einer neuen Welt. staltung des Wissens, auf alle Gebiete aus; selbst die Religionen werden jetzt zu Ordnungen, Gattungen und Arten zusammengefasst. Das Durchdringen der an der Botanik exemplifizierten Methode bildet überall das Rückgrat unserer geschichtlichen Entwickelung im Wissenschaft- lichen zwischen 1200 und 1800. In Physik, Chemie und Physiologie, sowie in allen verwandten Zweigen walten dieselben Prinzipien vor. Schliesslich muss alles Wissen systematisiert werden, um Wissenschaft zu werden; wir treffen also immer und überall Systematik an. Bichat’s Gewebelehre — welche einen Erfolg anatomischer Entdeckungen und zugleich die Quelle zu neuen Entdeckungen bedeutet — ist ein Bei- spiel, dessen genaue Analogie mit John Ray’s Begründung des so- genannten natürlichen Pflanzensystems und der weiteren Geschichte dieser Disciplin sofort in die Augen fällt. Überall sehen wir peinlich genaues Beobachten, gefolgt von kühnem, schöpferischem, doch nicht dogmatischem Theoretisieren. Ehe ich diesen Abschnitt schliesse, möchte ich aber noch einen Schritt weiter gehen, sonst fehlt eine sehr wichtige Einsicht unter denen, die als leitende für das Verständnis der Geschichte unserer Wissenschaft, sowie für das Verständnis der Wissenschaft unseres Jahrhunderts zu dienen haben. Wir müssen noch etwas tiefer in Wesen und Wert des wissenschaftlichen Theoretisierens eindringen, und zwar wird das am besten durch Anknüpfung an das Experiment geschehen, an jene unvergleichliche Waffe germanischer Wissenschaft. Doch handelt es sich lediglich um eine Anknüpfung, denn das Experiment ist nur einigen Disciplinen eigen, während ich hier tiefer zu greifen habe, um gewisse leitende Prinzipien aller neueren Wissenschaften aufzudecken. Das Experiment ist zunächst einfach »methodisches« Beobachten. Es ist aber zugleich theoretisches Beobachten. 1) Daher erfordert seine richtige Anwendung philosophische Überlegung, sonst wird leicht aus dem Experiment weniger die Natur als der Experimentator reden. »Ein Experiment, dem nicht eine Theorie, d. h. eine Idee vorher- geht, verhält sich zur Naturforschung wie das Rasseln mit einer Kinder- klapper zur Musik«, sagt Liebig, und in höchst geistreicher Weise ver- gleicht er den Versuch mit der Rechnung: in beiden Fällen müssen 1) Kant sagt über das Experiment: »die Vernunft sieht nur das ein, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, sie muss mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen, auf ihre Fragen zu ant- worten.« (Vorrede zur zweiten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 794. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/273>, abgerufen am 22.11.2024.