Werke De docta ignorantia; er meint da: das bewusste Nichtwissen sei der erste Schritt zu allem Wissen.
Sobald diese Einsicht so weit durchgedrungen war, dass selbst Kardinäle sie vortragen durften, ohne in Ungnade zu fallen, war der Sieg des Wissens sicher. Jedoch, um die Geschichte unserer Ent- deckungen und unserer Wissenschaften zu verstehen, werden wir das hier festgestellte Grundprinzip nie aus den Augen verlieren dürfen. Inzwischen hat freilich eine Verschiebung der Machtverhältnisse statt- gefunden, nicht jedoch der Prinzipien. Unser Wissen haben wir Schritt für Schritt nicht allein der Natur abringen, sondern auch den Hinder- nissen abtrotzen müssen, welche die Mächte der nichtswissenden Allweis- heit uns auf allen Seiten entgegenstellten. Als im Jahre 1874 Tyndall, in seiner berühmten Rede vor der British Association in Belfast, die unbedingte Freiheit der Forschung gefordert hatte, erhob sich in der ganzen anglikanischen Kirche, sowie in allen Kirchen der Dissidenten ein Sturm der Empörung. Bei uns kann zwischen Wissenschaft und Kirche niemals aufrichtige Harmonie bestehen, wie das in Indien der Fall war: zwischen einem dem Judentum entlehnten, chronistischen und absolutistischen Glaubenssystem und den fragenden, forschenden Instinkten der germanischen Persönlichkeit ist dies ein Ding der Un- möglichkeit. Man mag das nicht einsehen, man mag es aus inter- essierten Gründen leugnen, man mag es wegen fernreichender Pläne zu vertuschen suchen, wahr bleibt es doch, und diese Wahrheit bildet einen der Gründe zu der tiefliegenden Zwietracht unserer Zeiten. Daher kommt es auch, dass bisher so spottwenig von unserem grossen Endeckungswerk in das lebendige Bewusstsein der Völker eingedrungen ist. Diese erblicken wohl einige Resultate des Forschens -- solche die zu industriell verwertbaren Neuerungen führten; doch ist es offen- bar vollkommen gleichgültig, ob wir uns mit Talgkerzen oder mit elektrischen Glühlampen leuchten; entscheidend ist nicht, wie man sieht, sondern wer sieht. Erst wenn wir unsere Erziehungsmethoden so gänzlich umgewälzt haben, dass die Heranbildung des Einzelnen von Anfang an einem Entdecken gleicht und nicht lediglich aus der Überlieferung einer fertigen Weisheit besteht, erst dann werden wir auf diesem grundlegenden Gebiet des Wissens das fremde Joch in der That abgeschüttelt haben und der vollen Entfaltung unserer besten Kräfte entgegengehen.
Der Blick aus einer solchen möglichen Zukunft zurück auf unsere noch arme Gegenwart befähigt, noch weiter zurückzuschauen und mit
Entdeckung.
Werke De docta ignorantia; er meint da: das bewusste Nichtwissen sei der erste Schritt zu allem Wissen.
Sobald diese Einsicht so weit durchgedrungen war, dass selbst Kardinäle sie vortragen durften, ohne in Ungnade zu fallen, war der Sieg des Wissens sicher. Jedoch, um die Geschichte unserer Ent- deckungen und unserer Wissenschaften zu verstehen, werden wir das hier festgestellte Grundprinzip nie aus den Augen verlieren dürfen. Inzwischen hat freilich eine Verschiebung der Machtverhältnisse statt- gefunden, nicht jedoch der Prinzipien. Unser Wissen haben wir Schritt für Schritt nicht allein der Natur abringen, sondern auch den Hinder- nissen abtrotzen müssen, welche die Mächte der nichtswissenden Allweis- heit uns auf allen Seiten entgegenstellten. Als im Jahre 1874 Tyndall, in seiner berühmten Rede vor der British Association in Belfast, die unbedingte Freiheit der Forschung gefordert hatte, erhob sich in der ganzen anglikanischen Kirche, sowie in allen Kirchen der Dissidenten ein Sturm der Empörung. Bei uns kann zwischen Wissenschaft und Kirche niemals aufrichtige Harmonie bestehen, wie das in Indien der Fall war: zwischen einem dem Judentum entlehnten, chronistischen und absolutistischen Glaubenssystem und den fragenden, forschenden Instinkten der germanischen Persönlichkeit ist dies ein Ding der Un- möglichkeit. Man mag das nicht einsehen, man mag es aus inter- essierten Gründen leugnen, man mag es wegen fernreichender Pläne zu vertuschen suchen, wahr bleibt es doch, und diese Wahrheit bildet einen der Gründe zu der tiefliegenden Zwietracht unserer Zeiten. Daher kommt es auch, dass bisher so spottwenig von unserem grossen Endeckungswerk in das lebendige Bewusstsein der Völker eingedrungen ist. Diese erblicken wohl einige Resultate des Forschens — solche die zu industriell verwertbaren Neuerungen führten; doch ist es offen- bar vollkommen gleichgültig, ob wir uns mit Talgkerzen oder mit elektrischen Glühlampen leuchten; entscheidend ist nicht, wie man sieht, sondern wer sieht. Erst wenn wir unsere Erziehungsmethoden so gänzlich umgewälzt haben, dass die Heranbildung des Einzelnen von Anfang an einem Entdecken gleicht und nicht lediglich aus der Überlieferung einer fertigen Weisheit besteht, erst dann werden wir auf diesem grundlegenden Gebiet des Wissens das fremde Joch in der That abgeschüttelt haben und der vollen Entfaltung unserer besten Kräfte entgegengehen.
Der Blick aus einer solchen möglichen Zukunft zurück auf unsere noch arme Gegenwart befähigt, noch weiter zurückzuschauen und mit
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Entdeckung.
Werke De docta ignorantia; er meint da: das bewusste Nichtwissen
sei der erste Schritt zu allem Wissen.
Sobald diese Einsicht so weit durchgedrungen war, dass selbst
Kardinäle sie vortragen durften, ohne in Ungnade zu fallen, war der
Sieg des Wissens sicher. Jedoch, um die Geschichte unserer Ent-
deckungen und unserer Wissenschaften zu verstehen, werden wir das
hier festgestellte Grundprinzip nie aus den Augen verlieren dürfen.
Inzwischen hat freilich eine Verschiebung der Machtverhältnisse statt-
gefunden, nicht jedoch der Prinzipien. Unser Wissen haben wir Schritt
für Schritt nicht allein der Natur abringen, sondern auch den Hinder-
nissen abtrotzen müssen, welche die Mächte der nichtswissenden Allweis-
heit uns auf allen Seiten entgegenstellten. Als im Jahre 1874 Tyndall,
in seiner berühmten Rede vor der British Association in Belfast, die
unbedingte Freiheit der Forschung gefordert hatte, erhob sich in der
ganzen anglikanischen Kirche, sowie in allen Kirchen der Dissidenten
ein Sturm der Empörung. Bei uns kann zwischen Wissenschaft und
Kirche niemals aufrichtige Harmonie bestehen, wie das in Indien der
Fall war: zwischen einem dem Judentum entlehnten, chronistischen
und absolutistischen Glaubenssystem und den fragenden, forschenden
Instinkten der germanischen Persönlichkeit ist dies ein Ding der Un-
möglichkeit. Man mag das nicht einsehen, man mag es aus inter-
essierten Gründen leugnen, man mag es wegen fernreichender Pläne
zu vertuschen suchen, wahr bleibt es doch, und diese Wahrheit bildet
einen der Gründe zu der tiefliegenden Zwietracht unserer Zeiten.
Daher kommt es auch, dass bisher so spottwenig von unserem grossen
Endeckungswerk in das lebendige Bewusstsein der Völker eingedrungen
ist. Diese erblicken wohl einige Resultate des Forschens — solche
die zu industriell verwertbaren Neuerungen führten; doch ist es offen-
bar vollkommen gleichgültig, ob wir uns mit Talgkerzen oder mit
elektrischen Glühlampen leuchten; entscheidend ist nicht, wie man
sieht, sondern wer sieht. Erst wenn wir unsere Erziehungsmethoden
so gänzlich umgewälzt haben, dass die Heranbildung des Einzelnen
von Anfang an einem Entdecken gleicht und nicht lediglich aus
der Überlieferung einer fertigen Weisheit besteht, erst dann werden
wir auf diesem grundlegenden Gebiet des Wissens das fremde Joch
in der That abgeschüttelt haben und der vollen Entfaltung unserer
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 767. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/246>, abgerufen am 22.11.2024.
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