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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
gilt also durchaus nicht ohne Weiteres, sondern es kommt darauf an,
wer der Wissende ist. Vom Wissen, viel mehr als vom Golde, könnte
man sagen, dass es an und für sich gar nichts ist, rein gar nichts,
und ebenso geeignet, dem Menschen zu schaden, ihn ganz und gar
zu Grunde zu richten, wie ihn zu erheben und zu veredeln. Der
unwissende chinesische Bauer ist einer der leistungsfähigsten und glück-
lichsten Menschen der Erde, der gelehrte Chinese ist eine Pest, er ist
der Krebsschaden seines Volkes; darum hatte jener bewunderungs-
würdige Mann, Lao-tze -- der von unseren modernen, in Menschheits-
Phrasen erzogenen Kommentatoren so schmählich Missverstandene --
tausendmal Recht zu schreiben: "Ach, könnten wir (d. h. "wir", die
Chinesen) nur das Vielwissen aufgeben und die Gelehrsamkeit ab-
schaffen! unserem Volke ginge es hundertmal besser!"1) Also auch hier
wieder werden wir auf die Individualität selber, auf ihre angeborenen
Fähigkeiten, ihren angeborenen Charakter zurückgeführt. Die eine
Menschenrasse kommt mit einem Minimum von Wissen vorzüglich
fort, mehr ist ihr tödlich, denn sie hat kein Organ dafür; bei der
anderen ist der Wissensdurst angeboren und sie verkümmert, wenn
sie diesem Bedürfnis keine Nahrung zuführen kann, auch versteht sie
den ewig zufliessenden Wissensstoff auf hundert Arten zu verarbeiten,
nicht allein zur Umgestaltung des äusseren Lebens, sondern zu fort-
währender Bereicherung des Denkens und Schaffens. In diesem Falle
befinden sich die Germanen. Nicht die Menge dessen, was sie wissen,
verdient Bewunderung -- denn alles Wissen bleibt ewig relativ --
sondern die Thatsache, dass sie die seltene Fähigkeit besassen, es zu
lernen, d. h. ohne Ende zu entdecken, ohne Ende die "stummen
Sphinxe" zum Reden zu zwingen, und dazu die Fähigkeit, das Auf-
genommene gewissermassen zu absorbieren, so dass immer wieder für
Neues Platz entstand, ohne dass Plethora eingetreten wäre.

Man sieht, wie unendlich kompliziert jede Individualität ist! Doch
hoffe ich, dass aus diesen kurzen Bemerkungen im Verein mit denen
im vorangehenden Teil dieses Kapitels der Leser unschwer die eigen-
artige Bedeutung des Wissens (hier nämlich in seiner einfachsten Gestalt
als Entdeckung von Thatsachen) für das Leben des Germanen begreifen
wird. Er wird auch einsehen, wie vielfach diese -- in einem gewissen
Sinne rein stoffliche -- Anlage mit seinen höheren und höchsten Gaben
zusammenhängt. Nur eine ausserordentlich philosophische Anlage und

1) Tao Teh King XIX, 1.

Die Entstehung einer neuen Welt.
gilt also durchaus nicht ohne Weiteres, sondern es kommt darauf an,
wer der Wissende ist. Vom Wissen, viel mehr als vom Golde, könnte
man sagen, dass es an und für sich gar nichts ist, rein gar nichts,
und ebenso geeignet, dem Menschen zu schaden, ihn ganz und gar
zu Grunde zu richten, wie ihn zu erheben und zu veredeln. Der
unwissende chinesische Bauer ist einer der leistungsfähigsten und glück-
lichsten Menschen der Erde, der gelehrte Chinese ist eine Pest, er ist
der Krebsschaden seines Volkes; darum hatte jener bewunderungs-
würdige Mann, Laô-tze — der von unseren modernen, in Menschheits-
Phrasen erzogenen Kommentatoren so schmählich Missverstandene —
tausendmal Recht zu schreiben: »Ach, könnten wir (d. h. »wir«, die
Chinesen) nur das Vielwissen aufgeben und die Gelehrsamkeit ab-
schaffen! unserem Volke ginge es hundertmal besser!«1) Also auch hier
wieder werden wir auf die Individualität selber, auf ihre angeborenen
Fähigkeiten, ihren angeborenen Charakter zurückgeführt. Die eine
Menschenrasse kommt mit einem Minimum von Wissen vorzüglich
fort, mehr ist ihr tödlich, denn sie hat kein Organ dafür; bei der
anderen ist der Wissensdurst angeboren und sie verkümmert, wenn
sie diesem Bedürfnis keine Nahrung zuführen kann, auch versteht sie
den ewig zufliessenden Wissensstoff auf hundert Arten zu verarbeiten,
nicht allein zur Umgestaltung des äusseren Lebens, sondern zu fort-
währender Bereicherung des Denkens und Schaffens. In diesem Falle
befinden sich die Germanen. Nicht die Menge dessen, was sie wissen,
verdient Bewunderung — denn alles Wissen bleibt ewig relativ —
sondern die Thatsache, dass sie die seltene Fähigkeit besassen, es zu
lernen, d. h. ohne Ende zu entdecken, ohne Ende die »stummen
Sphinxe« zum Reden zu zwingen, und dazu die Fähigkeit, das Auf-
genommene gewissermassen zu absorbieren, so dass immer wieder für
Neues Platz entstand, ohne dass Plethora eingetreten wäre.

Man sieht, wie unendlich kompliziert jede Individualität ist! Doch
hoffe ich, dass aus diesen kurzen Bemerkungen im Verein mit denen
im vorangehenden Teil dieses Kapitels der Leser unschwer die eigen-
artige Bedeutung des Wissens (hier nämlich in seiner einfachsten Gestalt
als Entdeckung von Thatsachen) für das Leben des Germanen begreifen
wird. Er wird auch einsehen, wie vielfach diese — in einem gewissen
Sinne rein stoffliche — Anlage mit seinen höheren und höchsten Gaben
zusammenhängt. Nur eine ausserordentlich philosophische Anlage und

1) Tâo Teh King XIX, 1.
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[754/0233] Die Entstehung einer neuen Welt. gilt also durchaus nicht ohne Weiteres, sondern es kommt darauf an, wer der Wissende ist. Vom Wissen, viel mehr als vom Golde, könnte man sagen, dass es an und für sich gar nichts ist, rein gar nichts, und ebenso geeignet, dem Menschen zu schaden, ihn ganz und gar zu Grunde zu richten, wie ihn zu erheben und zu veredeln. Der unwissende chinesische Bauer ist einer der leistungsfähigsten und glück- lichsten Menschen der Erde, der gelehrte Chinese ist eine Pest, er ist der Krebsschaden seines Volkes; darum hatte jener bewunderungs- würdige Mann, Laô-tze — der von unseren modernen, in Menschheits- Phrasen erzogenen Kommentatoren so schmählich Missverstandene — tausendmal Recht zu schreiben: »Ach, könnten wir (d. h. »wir«, die Chinesen) nur das Vielwissen aufgeben und die Gelehrsamkeit ab- schaffen! unserem Volke ginge es hundertmal besser!« 1) Also auch hier wieder werden wir auf die Individualität selber, auf ihre angeborenen Fähigkeiten, ihren angeborenen Charakter zurückgeführt. Die eine Menschenrasse kommt mit einem Minimum von Wissen vorzüglich fort, mehr ist ihr tödlich, denn sie hat kein Organ dafür; bei der anderen ist der Wissensdurst angeboren und sie verkümmert, wenn sie diesem Bedürfnis keine Nahrung zuführen kann, auch versteht sie den ewig zufliessenden Wissensstoff auf hundert Arten zu verarbeiten, nicht allein zur Umgestaltung des äusseren Lebens, sondern zu fort- währender Bereicherung des Denkens und Schaffens. In diesem Falle befinden sich die Germanen. Nicht die Menge dessen, was sie wissen, verdient Bewunderung — denn alles Wissen bleibt ewig relativ — sondern die Thatsache, dass sie die seltene Fähigkeit besassen, es zu lernen, d. h. ohne Ende zu entdecken, ohne Ende die »stummen Sphinxe« zum Reden zu zwingen, und dazu die Fähigkeit, das Auf- genommene gewissermassen zu absorbieren, so dass immer wieder für Neues Platz entstand, ohne dass Plethora eingetreten wäre. Man sieht, wie unendlich kompliziert jede Individualität ist! Doch hoffe ich, dass aus diesen kurzen Bemerkungen im Verein mit denen im vorangehenden Teil dieses Kapitels der Leser unschwer die eigen- artige Bedeutung des Wissens (hier nämlich in seiner einfachsten Gestalt als Entdeckung von Thatsachen) für das Leben des Germanen begreifen wird. Er wird auch einsehen, wie vielfach diese — in einem gewissen Sinne rein stoffliche — Anlage mit seinen höheren und höchsten Gaben zusammenhängt. Nur eine ausserordentlich philosophische Anlage und 1) Tâo Teh King XIX, 1.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 754. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/233>, abgerufen am 24.11.2024.