Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Geschichtlicher Überblick.
anschauung und Wissenschaft, zwischen Religion und Kirche sind
evident; die Verwandtschaft mit Kunst wurde schon erwähnt. -- Für
das, was über Kunst zu sagen wäre, für den Sinn, der diesem Begriffe
in der indoeuropäischen Welt beizulegen ist, sowie für die Bedeutung
der Kunst für Kultur, Wissenschaft und Civilisation verweise ich
vorderhand auf das ganze erste Kapitel.

Über den Sinn der von mir gebrauchten Worte sind wir uns
nun, glaube ich, klar. Dass bei einem so summarischen Verfahren
manches schwankend bleibt, ist ohne Weiteres zuzugeben; der Schaden
ist aber nicht gross, im Gegenteil, die Knappheit zwingt zu genauem
Denken. So fragt man vielleicht, unter welche Rubrik die Medizin
kommt, da Etliche gemeint haben, sie sei eher eine Kunst als eine
Wissenschaft. Doch liegt hier, glaube ich, eine missbräuchliche An-
wendung des Begriffes Kunst vor, ein Fehler, den auch Liebig begeht,
wenn er behauptet: "neunundneunzig Prozent der Naturforschung ist
Kunst". Liebig begründet seine Behauptung, indem er erstens auf die
Mitwirkung der Phantasie bei aller höheren wissenschaftlichen Arbeit,
zweitens auf die entscheidende Bedeutung der gerätschaftlichen Erfin-
dungen für jeden Fortschritt des Wissens hinweist: Phantasie ist aber nicht
Kunst, sondern nur ihr Werkzeug, und die der Wissenschaft dienenden
Artefakten sind zwar ein "Künstliches", gehören aber durch Ursprung
und Zweck offenbar ganz dem Kreise des Industriellen an. Auch der
oft betonte Nutzen des intuitiven Blickes für den Arzt begründet nur
eine Verwandtschaft mit der Kunst, die auf jedem Gebiet des Lebens
statt hat; die medizinische Disciplin ist und bleibt eine Wissenschaft.
Dagegen gehört die Pädagogik, sobald sie als praktisches Schul- und
Unterrichtswesen aufgefasst wird, zu "Politik und Kirche". Durch sie
werden Seelen gemodelt und in das bunte Gewebe des Überein-
gekommenen fest eingeflochten; Staat und Kirche halten überall auf
nichts mehr als auf den Besitz der Schule und streiten miteinander
um nichts hartnäckiger als um die beiderseitigen Ansprüche auf die
Beeinflussung derselben. Ähnlich wird jede Erscheinung des gesell-
schaftlichen Lebens sich ohne künstlichen Zwang in die kleine Tafel
einreihen lassen.

Wer sich nun die Mühe geben will, die verschiedenen uns be-Vergleichende
Analysen.

kannten Civilisationen im Geiste an sich vorbeiziehen zu lassen, wird
finden, dass ihre so auffallende Verschiedenheit auf der Verschiedenheit
des Verhältnisses zwischen Wissen, Civilisation (im engeren Sinne) und
Kultur beruht, des Näheren dann in dem Vorwiegen oder in der Ver-

Geschichtlicher Überblick.
anschauung und Wissenschaft, zwischen Religion und Kirche sind
evident; die Verwandtschaft mit Kunst wurde schon erwähnt. — Für
das, was über Kunst zu sagen wäre, für den Sinn, der diesem Begriffe
in der indoeuropäischen Welt beizulegen ist, sowie für die Bedeutung
der Kunst für Kultur, Wissenschaft und Civilisation verweise ich
vorderhand auf das ganze erste Kapitel.

Über den Sinn der von mir gebrauchten Worte sind wir uns
nun, glaube ich, klar. Dass bei einem so summarischen Verfahren
manches schwankend bleibt, ist ohne Weiteres zuzugeben; der Schaden
ist aber nicht gross, im Gegenteil, die Knappheit zwingt zu genauem
Denken. So fragt man vielleicht, unter welche Rubrik die Medizin
kommt, da Etliche gemeint haben, sie sei eher eine Kunst als eine
Wissenschaft. Doch liegt hier, glaube ich, eine missbräuchliche An-
wendung des Begriffes Kunst vor, ein Fehler, den auch Liebig begeht,
wenn er behauptet: »neunundneunzig Prozent der Naturforschung ist
Kunst«. Liebig begründet seine Behauptung, indem er erstens auf die
Mitwirkung der Phantasie bei aller höheren wissenschaftlichen Arbeit,
zweitens auf die entscheidende Bedeutung der gerätschaftlichen Erfin-
dungen für jeden Fortschritt des Wissens hinweist: Phantasie ist aber nicht
Kunst, sondern nur ihr Werkzeug, und die der Wissenschaft dienenden
Artefakten sind zwar ein »Künstliches«, gehören aber durch Ursprung
und Zweck offenbar ganz dem Kreise des Industriellen an. Auch der
oft betonte Nutzen des intuitiven Blickes für den Arzt begründet nur
eine Verwandtschaft mit der Kunst, die auf jedem Gebiet des Lebens
statt hat; die medizinische Disciplin ist und bleibt eine Wissenschaft.
Dagegen gehört die Pädagogik, sobald sie als praktisches Schul- und
Unterrichtswesen aufgefasst wird, zu »Politik und Kirche«. Durch sie
werden Seelen gemodelt und in das bunte Gewebe des Überein-
gekommenen fest eingeflochten; Staat und Kirche halten überall auf
nichts mehr als auf den Besitz der Schule und streiten miteinander
um nichts hartnäckiger als um die beiderseitigen Ansprüche auf die
Beeinflussung derselben. Ähnlich wird jede Erscheinung des gesell-
schaftlichen Lebens sich ohne künstlichen Zwang in die kleine Tafel
einreihen lassen.

Wer sich nun die Mühe geben will, die verschiedenen uns be-Vergleichende
Analysen.

kannten Civilisationen im Geiste an sich vorbeiziehen zu lassen, wird
finden, dass ihre so auffallende Verschiedenheit auf der Verschiedenheit
des Verhältnisses zwischen Wissen, Civilisation (im engeren Sinne) und
Kultur beruht, des Näheren dann in dem Vorwiegen oder in der Ver-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0218" n="739"/><fw place="top" type="header">Geschichtlicher Überblick.</fw><lb/>
anschauung und Wissenschaft, zwischen Religion und Kirche sind<lb/>
evident; die Verwandtschaft mit Kunst wurde schon erwähnt. &#x2014; Für<lb/>
das, was über <hi rendition="#g">Kunst</hi> zu sagen wäre, für den Sinn, der diesem Begriffe<lb/>
in der indoeuropäischen Welt beizulegen ist, sowie für die Bedeutung<lb/>
der Kunst für Kultur, Wissenschaft und Civilisation verweise ich<lb/>
vorderhand auf das ganze erste Kapitel.</p><lb/>
            <p>Über den Sinn der von mir gebrauchten Worte sind wir uns<lb/>
nun, glaube ich, klar. Dass bei einem so summarischen Verfahren<lb/>
manches schwankend bleibt, ist ohne Weiteres zuzugeben; der Schaden<lb/>
ist aber nicht gross, im Gegenteil, die Knappheit zwingt zu genauem<lb/>
Denken. So fragt man vielleicht, unter welche Rubrik die <hi rendition="#g">Medizin</hi><lb/>
kommt, da Etliche gemeint haben, sie sei eher eine Kunst als eine<lb/>
Wissenschaft. Doch liegt hier, glaube ich, eine missbräuchliche An-<lb/>
wendung des Begriffes Kunst vor, ein Fehler, den auch Liebig begeht,<lb/>
wenn er behauptet: »neunundneunzig Prozent der Naturforschung ist<lb/>
Kunst«. Liebig begründet seine Behauptung, indem er erstens auf die<lb/>
Mitwirkung der <hi rendition="#g">Phantasie</hi> bei aller höheren wissenschaftlichen Arbeit,<lb/>
zweitens auf die entscheidende Bedeutung der gerätschaftlichen Erfin-<lb/>
dungen für jeden Fortschritt des Wissens hinweist: Phantasie ist aber nicht<lb/>
Kunst, sondern nur ihr Werkzeug, und die der Wissenschaft dienenden<lb/>
Artefakten sind zwar ein »Künstliches«, gehören aber durch Ursprung<lb/>
und Zweck offenbar ganz dem Kreise des Industriellen an. Auch der<lb/>
oft betonte Nutzen des intuitiven Blickes für den Arzt begründet nur<lb/>
eine Verwandtschaft mit der Kunst, die auf jedem Gebiet des Lebens<lb/>
statt hat; die medizinische Disciplin ist und bleibt eine Wissenschaft.<lb/>
Dagegen gehört die <hi rendition="#g">Pädagogik,</hi> sobald sie als praktisches Schul- und<lb/>
Unterrichtswesen aufgefasst wird, zu »Politik und Kirche«. Durch sie<lb/>
werden Seelen gemodelt und in das bunte Gewebe des Überein-<lb/>
gekommenen fest eingeflochten; Staat und Kirche halten überall auf<lb/>
nichts mehr als auf den Besitz der Schule und streiten miteinander<lb/>
um nichts hartnäckiger als um die beiderseitigen Ansprüche auf die<lb/>
Beeinflussung derselben. Ähnlich wird jede Erscheinung des gesell-<lb/>
schaftlichen Lebens sich ohne künstlichen Zwang in die kleine Tafel<lb/>
einreihen lassen.</p><lb/>
            <p>Wer sich nun die Mühe geben will, die verschiedenen uns be-<note place="right">Vergleichende<lb/>
Analysen.</note><lb/>
kannten Civilisationen im Geiste an sich vorbeiziehen zu lassen, wird<lb/>
finden, dass ihre so auffallende Verschiedenheit auf der Verschiedenheit<lb/>
des Verhältnisses zwischen Wissen, Civilisation (im engeren Sinne) und<lb/>
Kultur beruht, des Näheren dann in dem Vorwiegen oder in der Ver-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[739/0218] Geschichtlicher Überblick. anschauung und Wissenschaft, zwischen Religion und Kirche sind evident; die Verwandtschaft mit Kunst wurde schon erwähnt. — Für das, was über Kunst zu sagen wäre, für den Sinn, der diesem Begriffe in der indoeuropäischen Welt beizulegen ist, sowie für die Bedeutung der Kunst für Kultur, Wissenschaft und Civilisation verweise ich vorderhand auf das ganze erste Kapitel. Über den Sinn der von mir gebrauchten Worte sind wir uns nun, glaube ich, klar. Dass bei einem so summarischen Verfahren manches schwankend bleibt, ist ohne Weiteres zuzugeben; der Schaden ist aber nicht gross, im Gegenteil, die Knappheit zwingt zu genauem Denken. So fragt man vielleicht, unter welche Rubrik die Medizin kommt, da Etliche gemeint haben, sie sei eher eine Kunst als eine Wissenschaft. Doch liegt hier, glaube ich, eine missbräuchliche An- wendung des Begriffes Kunst vor, ein Fehler, den auch Liebig begeht, wenn er behauptet: »neunundneunzig Prozent der Naturforschung ist Kunst«. Liebig begründet seine Behauptung, indem er erstens auf die Mitwirkung der Phantasie bei aller höheren wissenschaftlichen Arbeit, zweitens auf die entscheidende Bedeutung der gerätschaftlichen Erfin- dungen für jeden Fortschritt des Wissens hinweist: Phantasie ist aber nicht Kunst, sondern nur ihr Werkzeug, und die der Wissenschaft dienenden Artefakten sind zwar ein »Künstliches«, gehören aber durch Ursprung und Zweck offenbar ganz dem Kreise des Industriellen an. Auch der oft betonte Nutzen des intuitiven Blickes für den Arzt begründet nur eine Verwandtschaft mit der Kunst, die auf jedem Gebiet des Lebens statt hat; die medizinische Disciplin ist und bleibt eine Wissenschaft. Dagegen gehört die Pädagogik, sobald sie als praktisches Schul- und Unterrichtswesen aufgefasst wird, zu »Politik und Kirche«. Durch sie werden Seelen gemodelt und in das bunte Gewebe des Überein- gekommenen fest eingeflochten; Staat und Kirche halten überall auf nichts mehr als auf den Besitz der Schule und streiten miteinander um nichts hartnäckiger als um die beiderseitigen Ansprüche auf die Beeinflussung derselben. Ähnlich wird jede Erscheinung des gesell- schaftlichen Lebens sich ohne künstlichen Zwang in die kleine Tafel einreihen lassen. Wer sich nun die Mühe geben will, die verschiedenen uns be- kannten Civilisationen im Geiste an sich vorbeiziehen zu lassen, wird finden, dass ihre so auffallende Verschiedenheit auf der Verschiedenheit des Verhältnisses zwischen Wissen, Civilisation (im engeren Sinne) und Kultur beruht, des Näheren dann in dem Vorwiegen oder in der Ver- Vergleichende Analysen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/218
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 739. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/218>, abgerufen am 24.11.2024.