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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Der Kampf.
In früheren Jahrhunderten pflegte man die Religion die Seele, den
Staat den Leib zu nennen1); doch heute, wo die innige Verknüpfung
von Seele und Leib im Individuum uns immer gegenwärtiger wird,
so dass wir kaum wissen, wo wir eine Grenze annehmen sollen,
heute sollte uns jene Unterscheidung eher stutzig machen. Wir
wissen, dass sich hinter einem Streite über Rechtfertigung durch den
Glauben und Rechtfertigung durch die Werke, der sich ganz und
gar im Forum der Seele abzuspielen scheint, recht "leibliche" Dinge
enthüllen können; der Gang der Geschichte hat es uns gezeigt; und
andererseits sehen wir die Gestaltung und den Mechanismus des
staatlichen Leibes in weitreichendem Masse bestimmend auf die Be-
schaffenheit der Seele wirken (z. B. Frankreich seit der Bartholo-
mäusnacht und den Dragonaden). In den entscheidenden Augen-
blicken fallen die Begriffe Staat und Religion völlig zusammen; ohne
Metapher kann man behaupten, dass für den alten Römer sein Staat
seine Religion, für den Juden dagegen seine Religion sein Staat war;
und auch heute, wenn der Soldat sich in die Schlacht stürzt mit
dem Rufe: für Gott, König und Vaterland! so ist das Religion und
zugleich Staat. Dennoch, und trotz der Notwendigkeit einer solchen
Verwahrung, dürfte die Unterscheidung sich als praktisch erweisen,
praktisch für eine schnelle Uebersicht jener Gipfelpunkte der Geschichte
und praktisch für die spätere Anknüpfung an die Erscheinungen und
Strömungen unseres Jahrhunderts.



1) Z. B. Gregor II. in seinem viel genannten Brief an Kaiser Leo den Isaurier.

Der Kampf.
In früheren Jahrhunderten pflegte man die Religion die Seele, den
Staat den Leib zu nennen1); doch heute, wo die innige Verknüpfung
von Seele und Leib im Individuum uns immer gegenwärtiger wird,
so dass wir kaum wissen, wo wir eine Grenze annehmen sollen,
heute sollte uns jene Unterscheidung eher stutzig machen. Wir
wissen, dass sich hinter einem Streite über Rechtfertigung durch den
Glauben und Rechtfertigung durch die Werke, der sich ganz und
gar im Forum der Seele abzuspielen scheint, recht »leibliche« Dinge
enthüllen können; der Gang der Geschichte hat es uns gezeigt; und
andererseits sehen wir die Gestaltung und den Mechanismus des
staatlichen Leibes in weitreichendem Masse bestimmend auf die Be-
schaffenheit der Seele wirken (z. B. Frankreich seit der Bartholo-
mäusnacht und den Dragonaden). In den entscheidenden Augen-
blicken fallen die Begriffe Staat und Religion völlig zusammen; ohne
Metapher kann man behaupten, dass für den alten Römer sein Staat
seine Religion, für den Juden dagegen seine Religion sein Staat war;
und auch heute, wenn der Soldat sich in die Schlacht stürzt mit
dem Rufe: für Gott, König und Vaterland! so ist das Religion und
zugleich Staat. Dennoch, und trotz der Notwendigkeit einer solchen
Verwahrung, dürfte die Unterscheidung sich als praktisch erweisen,
praktisch für eine schnelle Uebersicht jener Gipfelpunkte der Geschichte
und praktisch für die spätere Anknüpfung an die Erscheinungen und
Strömungen unseres Jahrhunderts.



1) Z. B. Gregor II. in seinem viel genannten Brief an Kaiser Leo den Isaurier.
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[542/0021] Der Kampf. In früheren Jahrhunderten pflegte man die Religion die Seele, den Staat den Leib zu nennen 1); doch heute, wo die innige Verknüpfung von Seele und Leib im Individuum uns immer gegenwärtiger wird, so dass wir kaum wissen, wo wir eine Grenze annehmen sollen, heute sollte uns jene Unterscheidung eher stutzig machen. Wir wissen, dass sich hinter einem Streite über Rechtfertigung durch den Glauben und Rechtfertigung durch die Werke, der sich ganz und gar im Forum der Seele abzuspielen scheint, recht »leibliche« Dinge enthüllen können; der Gang der Geschichte hat es uns gezeigt; und andererseits sehen wir die Gestaltung und den Mechanismus des staatlichen Leibes in weitreichendem Masse bestimmend auf die Be- schaffenheit der Seele wirken (z. B. Frankreich seit der Bartholo- mäusnacht und den Dragonaden). In den entscheidenden Augen- blicken fallen die Begriffe Staat und Religion völlig zusammen; ohne Metapher kann man behaupten, dass für den alten Römer sein Staat seine Religion, für den Juden dagegen seine Religion sein Staat war; und auch heute, wenn der Soldat sich in die Schlacht stürzt mit dem Rufe: für Gott, König und Vaterland! so ist das Religion und zugleich Staat. Dennoch, und trotz der Notwendigkeit einer solchen Verwahrung, dürfte die Unterscheidung sich als praktisch erweisen, praktisch für eine schnelle Uebersicht jener Gipfelpunkte der Geschichte und praktisch für die spätere Anknüpfung an die Erscheinungen und Strömungen unseres Jahrhunderts. 1) Z. B. Gregor II. in seinem viel genannten Brief an Kaiser Leo den Isaurier.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 542. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/21>, abgerufen am 23.11.2024.