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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur.
fortschreitende Entwickelung und fortschreitender Verfall sind Phäno-
mene, die an das individuelle Leben geknüpft sind und nur alle-
gorisch, nicht sensu proprio, auf die allgemeinen Erscheinungen
der Natur angewendet werden können. Jedes Individuum zeigt uns
Fortschritt und Verfall, jedes Individuelle, welcher Art es auch sei,
ebenfalls -- also auch die individuelle Rasse, die individuelle Nation,
die individuelle Kultur; das ist eben der Preis, der bezahlt werden
muss, um Individualität zu besitzen; wogegen bei allgemeinen, nicht
individuellen Phänomenen die Begriffe Fortschritt und Entartung gänz-
lich bedeutungsleer sind und lediglich eine missbräuchliche Um-
schreibung für Änderung und Bewegung darstellen. Darum sagte
Schiller von dem gewöhnlichen, gewissermassen "empirischen" Un-
sterblichkeitsgedanken (wie ihn die orthodoxe christliche Kirche lehrt),
es sei dies: "eine Forderung, die nur von einer ins Absolute strebenden
Tierheit kann aufgeworfen werden".1) Tierheit soll hier den Gegen-
satz zu Individualität aussprechen: denn das Gesetz der Individualität
ist jene äusserliche Begrenzung, von der uns Goethe im vorigen Kapitel
sprach, und das bedeutet eine Begrenzung nicht allein im Raume,
sondern auch in der Zeit; wogegen das Allgemeine -- also wie hier
die Tierheit des Menschen, mit anderen Worten, der Mensch als Tier,
im Gegensatz zum Menschen als Individuum -- keine notwendige,
sondern höchstens eine zufällige Grenze hat. Wo aber Begrenzung
fehlt, kann im eigentlichen Sinne von einem "Schreiten" nach vor-
wärts oder nach rückwärts keine Rede sein, sondern lediglich von
Bewegung. Desswegen lässt sich selbst aus dem konsequentesten
und darum flachsten Darwinismus kein haltbarer Begriff des Fort-
schrittes entwickeln: denn die Anpassung an bestimmte Verhältnisse
ist nichts weiter als eine Gleichgewichtserscheinung, und die angeb-
liche Evolution aus einfacheren Lebensformen zu immer komplizierteren
kann eben so gut als Verfall wie als Fortschritt aufgefasst werden;2) sie
ist eben keins von beiden, sondern lediglich eine Bewegungserscheinung.
Das giebt auch der Philosoph des Darwinismus, Herbert Spencer zu,
indem er die Evolution als eine rhythmische Pulsation auffasst und

nach der Hypothese des Verfalles, hätte sich klar ergeben, dass hier ein Trans-
scendentes und nicht empirische Geschichte am Werke ist.
1) Ästhetische Erziehung, Bf. 24.
2) Vom Standpunkt des konsequenten Materialismus aus ist die Monere das
vollkommenste Tier, denn es ist das einfachste und darum widerstandsfähigste und
ist zum Leben im Wasser, also auf der grössten Fläche des Planeten, organisiert.
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Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur.
fortschreitende Entwickelung und fortschreitender Verfall sind Phäno-
mene, die an das individuelle Leben geknüpft sind und nur alle-
gorisch, nicht sensu proprio, auf die allgemeinen Erscheinungen
der Natur angewendet werden können. Jedes Individuum zeigt uns
Fortschritt und Verfall, jedes Individuelle, welcher Art es auch sei,
ebenfalls — also auch die individuelle Rasse, die individuelle Nation,
die individuelle Kultur; das ist eben der Preis, der bezahlt werden
muss, um Individualität zu besitzen; wogegen bei allgemeinen, nicht
individuellen Phänomenen die Begriffe Fortschritt und Entartung gänz-
lich bedeutungsleer sind und lediglich eine missbräuchliche Um-
schreibung für Änderung und Bewegung darstellen. Darum sagte
Schiller von dem gewöhnlichen, gewissermassen »empirischen« Un-
sterblichkeitsgedanken (wie ihn die orthodoxe christliche Kirche lehrt),
es sei dies: »eine Forderung, die nur von einer ins Absolute strebenden
Tierheit kann aufgeworfen werden«.1) Tierheit soll hier den Gegen-
satz zu Individualität aussprechen: denn das Gesetz der Individualität
ist jene äusserliche Begrenzung, von der uns Goethe im vorigen Kapitel
sprach, und das bedeutet eine Begrenzung nicht allein im Raume,
sondern auch in der Zeit; wogegen das Allgemeine — also wie hier
die Tierheit des Menschen, mit anderen Worten, der Mensch als Tier,
im Gegensatz zum Menschen als Individuum — keine notwendige,
sondern höchstens eine zufällige Grenze hat. Wo aber Begrenzung
fehlt, kann im eigentlichen Sinne von einem »Schreiten« nach vor-
wärts oder nach rückwärts keine Rede sein, sondern lediglich von
Bewegung. Desswegen lässt sich selbst aus dem konsequentesten
und darum flachsten Darwinismus kein haltbarer Begriff des Fort-
schrittes entwickeln: denn die Anpassung an bestimmte Verhältnisse
ist nichts weiter als eine Gleichgewichtserscheinung, und die angeb-
liche Evolution aus einfacheren Lebensformen zu immer komplizierteren
kann eben so gut als Verfall wie als Fortschritt aufgefasst werden;2) sie
ist eben keins von beiden, sondern lediglich eine Bewegungserscheinung.
Das giebt auch der Philosoph des Darwinismus, Herbert Spencer zu,
indem er die Evolution als eine rhythmische Pulsation auffasst und

nach der Hypothese des Verfalles, hätte sich klar ergeben, dass hier ein Trans-
scendentes und nicht empirische Geschichte am Werke ist.
1) Ästhetische Erziehung, Bf. 24.
2) Vom Standpunkt des konsequenten Materialismus aus ist die Monere das
vollkommenste Tier, denn es ist das einfachste und darum widerstandsfähigste und
ist zum Leben im Wasser, also auf der grössten Fläche des Planeten, organisiert.
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[715/0194] Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur. fortschreitende Entwickelung und fortschreitender Verfall sind Phäno- mene, die an das individuelle Leben geknüpft sind und nur alle- gorisch, nicht sensu proprio, auf die allgemeinen Erscheinungen der Natur angewendet werden können. Jedes Individuum zeigt uns Fortschritt und Verfall, jedes Individuelle, welcher Art es auch sei, ebenfalls — also auch die individuelle Rasse, die individuelle Nation, die individuelle Kultur; das ist eben der Preis, der bezahlt werden muss, um Individualität zu besitzen; wogegen bei allgemeinen, nicht individuellen Phänomenen die Begriffe Fortschritt und Entartung gänz- lich bedeutungsleer sind und lediglich eine missbräuchliche Um- schreibung für Änderung und Bewegung darstellen. Darum sagte Schiller von dem gewöhnlichen, gewissermassen »empirischen« Un- sterblichkeitsgedanken (wie ihn die orthodoxe christliche Kirche lehrt), es sei dies: »eine Forderung, die nur von einer ins Absolute strebenden Tierheit kann aufgeworfen werden«. 1) Tierheit soll hier den Gegen- satz zu Individualität aussprechen: denn das Gesetz der Individualität ist jene äusserliche Begrenzung, von der uns Goethe im vorigen Kapitel sprach, und das bedeutet eine Begrenzung nicht allein im Raume, sondern auch in der Zeit; wogegen das Allgemeine — also wie hier die Tierheit des Menschen, mit anderen Worten, der Mensch als Tier, im Gegensatz zum Menschen als Individuum — keine notwendige, sondern höchstens eine zufällige Grenze hat. Wo aber Begrenzung fehlt, kann im eigentlichen Sinne von einem »Schreiten« nach vor- wärts oder nach rückwärts keine Rede sein, sondern lediglich von Bewegung. Desswegen lässt sich selbst aus dem konsequentesten und darum flachsten Darwinismus kein haltbarer Begriff des Fort- schrittes entwickeln: denn die Anpassung an bestimmte Verhältnisse ist nichts weiter als eine Gleichgewichtserscheinung, und die angeb- liche Evolution aus einfacheren Lebensformen zu immer komplizierteren kann eben so gut als Verfall wie als Fortschritt aufgefasst werden; 2) sie ist eben keins von beiden, sondern lediglich eine Bewegungserscheinung. Das giebt auch der Philosoph des Darwinismus, Herbert Spencer zu, indem er die Evolution als eine rhythmische Pulsation auffasst und 1) 1) Ästhetische Erziehung, Bf. 24. 2) Vom Standpunkt des konsequenten Materialismus aus ist die Monere das vollkommenste Tier, denn es ist das einfachste und darum widerstandsfähigste und ist zum Leben im Wasser, also auf der grössten Fläche des Planeten, organisiert. 1) nach der Hypothese des Verfalles, hätte sich klar ergeben, dass hier ein Trans- scendentes und nicht empirische Geschichte am Werke ist. 46*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 715. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/194>, abgerufen am 25.11.2024.