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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
nicht, dass Nachahmung dümmste Unverschämtheit ist. Aus dieser
elend stümperhaften Gesinnung und Anschauung war der Gedanke
an eine Anknüpfung an Griechenland und Rom, an eine Fortsetzung
ihres Werkes entsprungen, worin sich -- das merke man wohl --
eine fast lächerliche Unterschätzung der Leistungen jener grossen Völker
ausspricht, zugleich mit einem völligen Verkennen unserer germanischen
Kraft und Eigentümlichkeit.

Fortschritt
und
Entartung.

Und noch eins. Unschwer hat soeben Jeder einsehen können,
inwiefern es jene blasse Abstraktion einer allgemeinen, physiognomie-
und charakterlosen, beliebig zu knetenden "Menschheit" ist, welche zur
Unterschätzung der Bedeutung des Individuellen im Einzelnen wie in den
Völkern führt; diese Konfusion liegt nun einer weiteren, höchst verderb-
lichen zu Grunde, deren Aufdeckung mehr Aufmerksamkeit und Scharf-
sinn erfordert. Aus jenem ersten Urteilsfehler ergeben sich nämlich die
beiden sich gegenseitig ergänzenden Begriffe eines Fortschrittes der
Menschheit und einer Entartung der Menschheit, welche alle beide auf
dem gesunden Boden der konkreten historischen Thatsachen nicht zu
rechtfertigen sind. Moralisch mag gewiss die Vorstellung des Fort-
schrittes unentbehrlich sein, sie ist die Übertragung der Göttergabe der
Hoffnung aufs Allgemeine; andererseits kann die Metaphysik der Religion
das Symbol der Entartung nicht entbehren (siehe S. 560 fg.): doch
handelt es sich in beiden Fällen um innere Gemütszustände (im letzten
Grunde um transscendente Ahnungen), die das Individuum auf seine
Umgebung hinausprojizirt; auf die thatsächliche Geschichte als handle
es sich um objektive Wirklichkeiten angewendet, führen sie zu falschen
Urteilen und zur Verkennung der evidentesten Thatsachen.1) Denn

1) Siehe S. 10 und 32. Wie immer hat Immanuel Kant den Nagel auf
den Kopf getroffen, indem er die angeblich fortschreitende Menschheit mit jenem
Kranken vergleicht, der triumphierend ausrufen musste: "Ich sterbe vor lauter
Besserung!" (Streit der Fakultäten, II), an anderem Orte aber ergänzend schreibt:
"Dass die Welt im Ganzen immer zum Besseren fortschreitet, dies anzunehmen
berechtigt den Menschen keine Theorie, aber wohl die rein praktische Vernunft,
welche nach einer solchen Hypothese zu handeln dogmatisch gebietet" (Über die
Fortschritte der Metaphysik
, zweite Handschrift, Th. II). Also nicht eine äussere
Thatsache, sondern, wie man sieht, eine innere Orientierung der Seele findet in der
Vorstellung des Fortschrittes berechtigten Ausdruck. Hätte Kant die Notwendig-
keit des Verfalles ebenfalls betont, anstatt "das Geschrei von der unaufhaltsam
zunehmenden Verunartung" als belangloses Gerede aufzufassen (Vom Verhältnis der
Theorie zur Praxis im Völkerrecht)
, so wäre nichts unklar geblieben und aus der
Antinomie des Handelns nach der Hypothese des Fortschrittes und des Glaubens

Die Entstehung einer neuen Welt.
nicht, dass Nachahmung dümmste Unverschämtheit ist. Aus dieser
elend stümperhaften Gesinnung und Anschauung war der Gedanke
an eine Anknüpfung an Griechenland und Rom, an eine Fortsetzung
ihres Werkes entsprungen, worin sich — das merke man wohl —
eine fast lächerliche Unterschätzung der Leistungen jener grossen Völker
ausspricht, zugleich mit einem völligen Verkennen unserer germanischen
Kraft und Eigentümlichkeit.

Fortschritt
und
Entartung.

Und noch eins. Unschwer hat soeben Jeder einsehen können,
inwiefern es jene blasse Abstraktion einer allgemeinen, physiognomie-
und charakterlosen, beliebig zu knetenden »Menschheit« ist, welche zur
Unterschätzung der Bedeutung des Individuellen im Einzelnen wie in den
Völkern führt; diese Konfusion liegt nun einer weiteren, höchst verderb-
lichen zu Grunde, deren Aufdeckung mehr Aufmerksamkeit und Scharf-
sinn erfordert. Aus jenem ersten Urteilsfehler ergeben sich nämlich die
beiden sich gegenseitig ergänzenden Begriffe eines Fortschrittes der
Menschheit und einer Entartung der Menschheit, welche alle beide auf
dem gesunden Boden der konkreten historischen Thatsachen nicht zu
rechtfertigen sind. Moralisch mag gewiss die Vorstellung des Fort-
schrittes unentbehrlich sein, sie ist die Übertragung der Göttergabe der
Hoffnung aufs Allgemeine; andererseits kann die Metaphysik der Religion
das Symbol der Entartung nicht entbehren (siehe S. 560 fg.): doch
handelt es sich in beiden Fällen um innere Gemütszustände (im letzten
Grunde um transscendente Ahnungen), die das Individuum auf seine
Umgebung hinausprojizirt; auf die thatsächliche Geschichte als handle
es sich um objektive Wirklichkeiten angewendet, führen sie zu falschen
Urteilen und zur Verkennung der evidentesten Thatsachen.1) Denn

1) Siehe S. 10 und 32. Wie immer hat Immanuel Kant den Nagel auf
den Kopf getroffen, indem er die angeblich fortschreitende Menschheit mit jenem
Kranken vergleicht, der triumphierend ausrufen musste: »Ich sterbe vor lauter
Besserung!« (Streit der Fakultäten, II), an anderem Orte aber ergänzend schreibt:
»Dass die Welt im Ganzen immer zum Besseren fortschreitet, dies anzunehmen
berechtigt den Menschen keine Theorie, aber wohl die rein praktische Vernunft,
welche nach einer solchen Hypothese zu handeln dogmatisch gebietet« (Über die
Fortschritte der Metaphysik
, zweite Handschrift, Th. II). Also nicht eine äussere
Thatsache, sondern, wie man sieht, eine innere Orientierung der Seele findet in der
Vorstellung des Fortschrittes berechtigten Ausdruck. Hätte Kant die Notwendig-
keit des Verfalles ebenfalls betont, anstatt »das Geschrei von der unaufhaltsam
zunehmenden Verunartung« als belangloses Gerede aufzufassen (Vom Verhältnis der
Theorie zur Praxis im Völkerrecht)
, so wäre nichts unklar geblieben und aus der
Antinomie des Handelns nach der Hypothese des Fortschrittes und des Glaubens
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[714/0193] Die Entstehung einer neuen Welt. nicht, dass Nachahmung dümmste Unverschämtheit ist. Aus dieser elend stümperhaften Gesinnung und Anschauung war der Gedanke an eine Anknüpfung an Griechenland und Rom, an eine Fortsetzung ihres Werkes entsprungen, worin sich — das merke man wohl — eine fast lächerliche Unterschätzung der Leistungen jener grossen Völker ausspricht, zugleich mit einem völligen Verkennen unserer germanischen Kraft und Eigentümlichkeit. Und noch eins. Unschwer hat soeben Jeder einsehen können, inwiefern es jene blasse Abstraktion einer allgemeinen, physiognomie- und charakterlosen, beliebig zu knetenden »Menschheit« ist, welche zur Unterschätzung der Bedeutung des Individuellen im Einzelnen wie in den Völkern führt; diese Konfusion liegt nun einer weiteren, höchst verderb- lichen zu Grunde, deren Aufdeckung mehr Aufmerksamkeit und Scharf- sinn erfordert. Aus jenem ersten Urteilsfehler ergeben sich nämlich die beiden sich gegenseitig ergänzenden Begriffe eines Fortschrittes der Menschheit und einer Entartung der Menschheit, welche alle beide auf dem gesunden Boden der konkreten historischen Thatsachen nicht zu rechtfertigen sind. Moralisch mag gewiss die Vorstellung des Fort- schrittes unentbehrlich sein, sie ist die Übertragung der Göttergabe der Hoffnung aufs Allgemeine; andererseits kann die Metaphysik der Religion das Symbol der Entartung nicht entbehren (siehe S. 560 fg.): doch handelt es sich in beiden Fällen um innere Gemütszustände (im letzten Grunde um transscendente Ahnungen), die das Individuum auf seine Umgebung hinausprojizirt; auf die thatsächliche Geschichte als handle es sich um objektive Wirklichkeiten angewendet, führen sie zu falschen Urteilen und zur Verkennung der evidentesten Thatsachen. 1) Denn 1) Siehe S. 10 und 32. Wie immer hat Immanuel Kant den Nagel auf den Kopf getroffen, indem er die angeblich fortschreitende Menschheit mit jenem Kranken vergleicht, der triumphierend ausrufen musste: »Ich sterbe vor lauter Besserung!« (Streit der Fakultäten, II), an anderem Orte aber ergänzend schreibt: »Dass die Welt im Ganzen immer zum Besseren fortschreitet, dies anzunehmen berechtigt den Menschen keine Theorie, aber wohl die rein praktische Vernunft, welche nach einer solchen Hypothese zu handeln dogmatisch gebietet« (Über die Fortschritte der Metaphysik, zweite Handschrift, Th. II). Also nicht eine äussere Thatsache, sondern, wie man sieht, eine innere Orientierung der Seele findet in der Vorstellung des Fortschrittes berechtigten Ausdruck. Hätte Kant die Notwendig- keit des Verfalles ebenfalls betont, anstatt »das Geschrei von der unaufhaltsam zunehmenden Verunartung« als belangloses Gerede aufzufassen (Vom Verhältnis der Theorie zur Praxis im Völkerrecht), so wäre nichts unklar geblieben und aus der Antinomie des Handelns nach der Hypothese des Fortschrittes und des Glaubens

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 714. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/193>, abgerufen am 24.11.2024.