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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Einleitendes.
Kunst und der Philosophie -- z. B. solcher Erscheinungen wie Goethe's
und Kant's -- ist unberechenbar gross. Hierauf komme ich aber erst
in dem zweiten Teil dieses Bandes, welcher die Entstehung einer neuen
germanischen Welt behandelt, zurück; dieser Abschnitt soll lediglich
dem Kampfe der grossen, um Besitz und Vorherrschaft ringenden
Gewalten gelten.

Wollte ich nun hier, wie das sonst zu geschehen pflegt, undReligion
und Staat.

wie ich es selber ursprünglich geplant hatte, dem Staat die Kirche ent-
gegenstellen, nicht die Religion, und von dem Verhältnis zwischen
Staat und Kirche reden, so liefen wir Gefahr, in lauter Schemen uns
zu bewegen. Denn die römische Kirche ist selber in allererster
Reihe eine politische, d. h. also eine staatliche Macht; sie erbte die
römische Imperiumsidee und, im Bunde mit dem Kaiser, vertrat sie
die Rechte eines angeblich göttlich eingesetzten, unumschränkt all-
mächtigen Universalreiches gegen germanische Tradition und ger-
manischen nationalen Gestaltungstrieb. Religion kommt hierbei nur
als ein Mittel zur innigen Amalgamierung aller Völker in Betracht.
Schon seit uralten Zeiten war in Rom der pontifex maximus der oberste
Beamte der Hierarchie, judex atque arbiter rerum divinarum humanarum-
que
, dem (nach der rechtlichen Theorie) der König und später die
Konsuln untergeordnet waren.1) Freilich hatte der ausserordentlich ent-
wickelte politische Sinn der alten Römer verhindert, dass der pontifex
maximus
jemals seine theoretische Gewalt als Richter aller göttlichen
und menschlichen Dinge missbrauchte, genau so wie die nach der
rechtlichen Fiktion unbeschränkte Gewalt des paterfamilias über
Leben und Tod der Seinigen zu keinen Ausschreitungen Anlass gab;2)
die Römer waren eben das extremste Gegenteil von Anarchisten ge-
wesen. Jetzt aber, im entfesselten Menschenchaos, lebten der Titel
und mit ihm seine Rechtsansprüche wieder auf; denn niemals hat man
so viel vom theoretischen "Recht" gehalten, niemals so unaufhörlich
auf verbrieften Rechtstiteln herumgeritten, wie in dieser Zeit, wo einzig
Gewalt und Tücke regierten. Perikles hatte gemeint, das ungeschriebene
Gesetz stehe höher als das geschriebene; jetzt dagegen galt nur das
geschriebene Wort; ein Kommentar des Ulpian, eine Glosse des
Tribonian -- auf ganz andere Verhältnisse berechnet -- entschied jetzt
in Ewigkeit als ratio scripta über die Rechte ganzer Völker; ein Per-

1) Siehe namentlich Leist: Graeco-italische Rechtsgeschichte, § 69.
2) Vergl. S. 178.

Einleitendes.
Kunst und der Philosophie — z. B. solcher Erscheinungen wie Goethe’s
und Kant’s — ist unberechenbar gross. Hierauf komme ich aber erst
in dem zweiten Teil dieses Bandes, welcher die Entstehung einer neuen
germanischen Welt behandelt, zurück; dieser Abschnitt soll lediglich
dem Kampfe der grossen, um Besitz und Vorherrschaft ringenden
Gewalten gelten.

Wollte ich nun hier, wie das sonst zu geschehen pflegt, undReligion
und Staat.

wie ich es selber ursprünglich geplant hatte, dem Staat die Kirche ent-
gegenstellen, nicht die Religion, und von dem Verhältnis zwischen
Staat und Kirche reden, so liefen wir Gefahr, in lauter Schemen uns
zu bewegen. Denn die römische Kirche ist selber in allererster
Reihe eine politische, d. h. also eine staatliche Macht; sie erbte die
römische Imperiumsidee und, im Bunde mit dem Kaiser, vertrat sie
die Rechte eines angeblich göttlich eingesetzten, unumschränkt all-
mächtigen Universalreiches gegen germanische Tradition und ger-
manischen nationalen Gestaltungstrieb. Religion kommt hierbei nur
als ein Mittel zur innigen Amalgamierung aller Völker in Betracht.
Schon seit uralten Zeiten war in Rom der pontifex maximus der oberste
Beamte der Hierarchie, judex atque arbiter rerum divinarum humanarum-
que
, dem (nach der rechtlichen Theorie) der König und später die
Konsuln untergeordnet waren.1) Freilich hatte der ausserordentlich ent-
wickelte politische Sinn der alten Römer verhindert, dass der pontifex
maximus
jemals seine theoretische Gewalt als Richter aller göttlichen
und menschlichen Dinge missbrauchte, genau so wie die nach der
rechtlichen Fiktion unbeschränkte Gewalt des paterfamilias über
Leben und Tod der Seinigen zu keinen Ausschreitungen Anlass gab;2)
die Römer waren eben das extremste Gegenteil von Anarchisten ge-
wesen. Jetzt aber, im entfesselten Menschenchaos, lebten der Titel
und mit ihm seine Rechtsansprüche wieder auf; denn niemals hat man
so viel vom theoretischen »Recht« gehalten, niemals so unaufhörlich
auf verbrieften Rechtstiteln herumgeritten, wie in dieser Zeit, wo einzig
Gewalt und Tücke regierten. Perikles hatte gemeint, das ungeschriebene
Gesetz stehe höher als das geschriebene; jetzt dagegen galt nur das
geschriebene Wort; ein Kommentar des Ulpian, eine Glosse des
Tribonian — auf ganz andere Verhältnisse berechnet — entschied jetzt
in Ewigkeit als ratio scripta über die Rechte ganzer Völker; ein Per-

1) Siehe namentlich Leist: Graeco-italische Rechtsgeschichte, § 69.
2) Vergl. S. 178.
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[539/0018] Einleitendes. Kunst und der Philosophie — z. B. solcher Erscheinungen wie Goethe’s und Kant’s — ist unberechenbar gross. Hierauf komme ich aber erst in dem zweiten Teil dieses Bandes, welcher die Entstehung einer neuen germanischen Welt behandelt, zurück; dieser Abschnitt soll lediglich dem Kampfe der grossen, um Besitz und Vorherrschaft ringenden Gewalten gelten. Wollte ich nun hier, wie das sonst zu geschehen pflegt, und wie ich es selber ursprünglich geplant hatte, dem Staat die Kirche ent- gegenstellen, nicht die Religion, und von dem Verhältnis zwischen Staat und Kirche reden, so liefen wir Gefahr, in lauter Schemen uns zu bewegen. Denn die römische Kirche ist selber in allererster Reihe eine politische, d. h. also eine staatliche Macht; sie erbte die römische Imperiumsidee und, im Bunde mit dem Kaiser, vertrat sie die Rechte eines angeblich göttlich eingesetzten, unumschränkt all- mächtigen Universalreiches gegen germanische Tradition und ger- manischen nationalen Gestaltungstrieb. Religion kommt hierbei nur als ein Mittel zur innigen Amalgamierung aller Völker in Betracht. Schon seit uralten Zeiten war in Rom der pontifex maximus der oberste Beamte der Hierarchie, judex atque arbiter rerum divinarum humanarum- que, dem (nach der rechtlichen Theorie) der König und später die Konsuln untergeordnet waren. 1) Freilich hatte der ausserordentlich ent- wickelte politische Sinn der alten Römer verhindert, dass der pontifex maximus jemals seine theoretische Gewalt als Richter aller göttlichen und menschlichen Dinge missbrauchte, genau so wie die nach der rechtlichen Fiktion unbeschränkte Gewalt des paterfamilias über Leben und Tod der Seinigen zu keinen Ausschreitungen Anlass gab; 2) die Römer waren eben das extremste Gegenteil von Anarchisten ge- wesen. Jetzt aber, im entfesselten Menschenchaos, lebten der Titel und mit ihm seine Rechtsansprüche wieder auf; denn niemals hat man so viel vom theoretischen »Recht« gehalten, niemals so unaufhörlich auf verbrieften Rechtstiteln herumgeritten, wie in dieser Zeit, wo einzig Gewalt und Tücke regierten. Perikles hatte gemeint, das ungeschriebene Gesetz stehe höher als das geschriebene; jetzt dagegen galt nur das geschriebene Wort; ein Kommentar des Ulpian, eine Glosse des Tribonian — auf ganz andere Verhältnisse berechnet — entschied jetzt in Ewigkeit als ratio scripta über die Rechte ganzer Völker; ein Per- Religion und Staat. 1) Siehe namentlich Leist: Graeco-italische Rechtsgeschichte, § 69. 2) Vergl. S. 178.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 539. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/18>, abgerufen am 23.11.2024.