Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Die Entstehung einer neuen Welt. nicht aus irgend einer chronologischen Gewissenhaftigkeit; es wäreüberhaupt unzulässig, kurzweg zu behaupten, der rinascimento der freien germanischen Individualität habe in Italien zuerst begonnen, viel- mehr sind dort nur seine ersten unvergänglichen Kulturblüten hervor- gesprossen; ich wollte aber darauf aufmerksam machen, dass selbst hier im Süden, an den Thoren Roms, das Aufflammen bürgerlicher Unabhängigkeit, industriellen Fleisses, wissenschaftlichen Ernstes und künstlerischer Schöpferkraft eine durch und durch germanische That war, und insofern auch eine direkt antirömische. Der Blick auf die damalige Zeit (auf die ich noch zurückkomme) bezeugt es, der Blick auf den heutigen Tag nicht minder. Zwei Umstände haben inzwischen eine progressive Abnahme des germanischen Blutes in Italien bewirkt: einmal die ungehinderte Verschmelzung mit dem unedlen Mischvolk, sodann die Vertilgung des germanischen Adels in den endlosen Bürger- kriegen, in den Kämpfen zwischen den Städten, sowie durch Blut- fehden und sonstige Ausbrüche wilder Leidenschaft. Man lese nur die Geschichte irgend einer jener Städte, z. B. des in seinen oberen Gesellschaftsschichten fast ganz gotisch-langobardischen Perugia! Es ist kaum begreiflich, dass bei solch unaufhörlichem Abmorden ganzer Familien (welches begann, sobald die Stadt unabhängig ge- worden war) einzelne Zweige doch noch ziemlich echt germanisch bis ins 16. Jahrhundert verblieben; dann war aber das germanische Blut erschöpft.1) Offenbar hatte die hastig errungene Kultur, die heftige Aneignung einer wesensfremden Bildung, dazu im schroffen Gegen- satz die plötzliche Offenbarung des seelenverwandten Hellenentums, vielleicht auch beginnende Kreuzung mit einem für Germanen giftigen Blute ..... offenbar hatte dies alles nicht allein zu einem mirakulösen Ausbruch des Genies geführt, sondern zugleich Raserei erzeugt. Wenn je eine Verwandtschaft zwischen Genie und Wahn- sinn dargethan werden soll, weise man auf das Italien des Tre-, Quatro- und Cinquecento! Von bleibender Bedeutung für unsere neue Kultur, macht dennoch diese "Renaissance" an und für sich eher den Eindruck des Paroxysmus eines Sterbenden, als den einer Leben verbürgenden Erscheinung. Wie durch einen Zauber schiessen tausend herrliche Blumen empor, dort, wo unmittelbar vorher die Einförmigkeit einer geistigen Wüste geherrscht hatte; alles blüht auf einmal auf; die eben 1) Wer zu ausführlichen geschichtlichen Studien nicht Zeit hat, lese des
Kunsthistorikers John Addington Symonds' Kapitel über Perugia in seinen Sketches in Italy. Die Entstehung einer neuen Welt. nicht aus irgend einer chronologischen Gewissenhaftigkeit; es wäreüberhaupt unzulässig, kurzweg zu behaupten, der rinascimento der freien germanischen Individualität habe in Italien zuerst begonnen, viel- mehr sind dort nur seine ersten unvergänglichen Kulturblüten hervor- gesprossen; ich wollte aber darauf aufmerksam machen, dass selbst hier im Süden, an den Thoren Roms, das Aufflammen bürgerlicher Unabhängigkeit, industriellen Fleisses, wissenschaftlichen Ernstes und künstlerischer Schöpferkraft eine durch und durch germanische That war, und insofern auch eine direkt antirömische. Der Blick auf die damalige Zeit (auf die ich noch zurückkomme) bezeugt es, der Blick auf den heutigen Tag nicht minder. Zwei Umstände haben inzwischen eine progressive Abnahme des germanischen Blutes in Italien bewirkt: einmal die ungehinderte Verschmelzung mit dem unedlen Mischvolk, sodann die Vertilgung des germanischen Adels in den endlosen Bürger- kriegen, in den Kämpfen zwischen den Städten, sowie durch Blut- fehden und sonstige Ausbrüche wilder Leidenschaft. Man lese nur die Geschichte irgend einer jener Städte, z. B. des in seinen oberen Gesellschaftsschichten fast ganz gotisch-langobardischen Perugia! Es ist kaum begreiflich, dass bei solch unaufhörlichem Abmorden ganzer Familien (welches begann, sobald die Stadt unabhängig ge- worden war) einzelne Zweige doch noch ziemlich echt germanisch bis ins 16. Jahrhundert verblieben; dann war aber das germanische Blut erschöpft.1) Offenbar hatte die hastig errungene Kultur, die heftige Aneignung einer wesensfremden Bildung, dazu im schroffen Gegen- satz die plötzliche Offenbarung des seelenverwandten Hellenentums, vielleicht auch beginnende Kreuzung mit einem für Germanen giftigen Blute ..... offenbar hatte dies alles nicht allein zu einem mirakulösen Ausbruch des Genies geführt, sondern zugleich Raserei erzeugt. Wenn je eine Verwandtschaft zwischen Genie und Wahn- sinn dargethan werden soll, weise man auf das Italien des Tre-, Quatro- und Cinquecento! Von bleibender Bedeutung für unsere neue Kultur, macht dennoch diese »Renaissance« an und für sich eher den Eindruck des Paroxysmus eines Sterbenden, als den einer Leben verbürgenden Erscheinung. Wie durch einen Zauber schiessen tausend herrliche Blumen empor, dort, wo unmittelbar vorher die Einförmigkeit einer geistigen Wüste geherrscht hatte; alles blüht auf einmal auf; die eben 1) Wer zu ausführlichen geschichtlichen Studien nicht Zeit hat, lese des
Kunsthistorikers John Addington Symonds’ Kapitel über Perugia in seinen Sketches in Italy. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0175" n="696"/><fw place="top" type="header">Die Entstehung einer neuen Welt.</fw><lb/> nicht aus irgend einer chronologischen Gewissenhaftigkeit; es wäre<lb/> überhaupt unzulässig, kurzweg zu behaupten, der <hi rendition="#i">rinascimento</hi> der<lb/> freien germanischen Individualität habe in Italien zuerst begonnen, viel-<lb/> mehr sind dort nur seine ersten unvergänglichen Kulturblüten hervor-<lb/> gesprossen; ich wollte aber darauf aufmerksam machen, dass selbst<lb/> hier im Süden, an den Thoren Roms, das Aufflammen bürgerlicher<lb/> Unabhängigkeit, industriellen Fleisses, wissenschaftlichen Ernstes und<lb/> künstlerischer Schöpferkraft eine durch und durch <hi rendition="#g">germanische</hi> That<lb/> war, und insofern auch eine direkt antirömische. Der Blick auf die<lb/> damalige Zeit (auf die ich noch zurückkomme) bezeugt es, der Blick<lb/> auf den heutigen Tag nicht minder. Zwei Umstände haben inzwischen<lb/> eine progressive Abnahme des germanischen Blutes in Italien bewirkt:<lb/> einmal die ungehinderte Verschmelzung mit dem unedlen Mischvolk,<lb/> sodann die Vertilgung des germanischen Adels in den endlosen Bürger-<lb/> kriegen, in den Kämpfen zwischen den Städten, sowie durch Blut-<lb/> fehden und sonstige Ausbrüche wilder Leidenschaft. Man lese nur<lb/> die Geschichte irgend einer jener Städte, z. B. des in seinen oberen<lb/> Gesellschaftsschichten fast ganz gotisch-langobardischen <hi rendition="#g">Perugia!</hi><lb/> Es ist kaum begreiflich, dass bei solch unaufhörlichem Abmorden<lb/> ganzer Familien (welches begann, sobald die Stadt unabhängig ge-<lb/> worden war) einzelne Zweige doch noch ziemlich echt germanisch<lb/> bis ins 16. Jahrhundert verblieben; dann war aber das germanische<lb/> Blut erschöpft.<note place="foot" n="1)">Wer zu ausführlichen geschichtlichen Studien nicht Zeit hat, lese des<lb/> Kunsthistorikers John Addington Symonds’ Kapitel über Perugia in seinen <hi rendition="#i">Sketches<lb/> in Italy.</hi></note> Offenbar hatte die hastig errungene Kultur, die heftige<lb/> Aneignung einer wesensfremden Bildung, dazu im schroffen Gegen-<lb/> satz die plötzliche Offenbarung des seelenverwandten Hellenentums,<lb/> vielleicht auch beginnende Kreuzung mit einem für Germanen giftigen<lb/> Blute ..... offenbar hatte dies alles nicht allein zu einem<lb/> mirakulösen Ausbruch des Genies geführt, sondern zugleich Raserei<lb/> erzeugt. Wenn je eine Verwandtschaft zwischen Genie und Wahn-<lb/> sinn dargethan werden soll, weise man auf das Italien des <hi rendition="#i">Tre-, Quatro-</hi><lb/> und <hi rendition="#i">Cinquecento!</hi> Von bleibender Bedeutung für unsere neue Kultur,<lb/> macht dennoch diese »Renaissance« an und für sich eher den Eindruck<lb/> des Paroxysmus eines Sterbenden, als den einer Leben verbürgenden<lb/> Erscheinung. Wie durch einen Zauber schiessen tausend herrliche<lb/> Blumen empor, dort, wo unmittelbar vorher die Einförmigkeit einer<lb/> geistigen Wüste geherrscht hatte; alles blüht auf einmal auf; die eben<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [696/0175]
Die Entstehung einer neuen Welt.
nicht aus irgend einer chronologischen Gewissenhaftigkeit; es wäre
überhaupt unzulässig, kurzweg zu behaupten, der rinascimento der
freien germanischen Individualität habe in Italien zuerst begonnen, viel-
mehr sind dort nur seine ersten unvergänglichen Kulturblüten hervor-
gesprossen; ich wollte aber darauf aufmerksam machen, dass selbst
hier im Süden, an den Thoren Roms, das Aufflammen bürgerlicher
Unabhängigkeit, industriellen Fleisses, wissenschaftlichen Ernstes und
künstlerischer Schöpferkraft eine durch und durch germanische That
war, und insofern auch eine direkt antirömische. Der Blick auf die
damalige Zeit (auf die ich noch zurückkomme) bezeugt es, der Blick
auf den heutigen Tag nicht minder. Zwei Umstände haben inzwischen
eine progressive Abnahme des germanischen Blutes in Italien bewirkt:
einmal die ungehinderte Verschmelzung mit dem unedlen Mischvolk,
sodann die Vertilgung des germanischen Adels in den endlosen Bürger-
kriegen, in den Kämpfen zwischen den Städten, sowie durch Blut-
fehden und sonstige Ausbrüche wilder Leidenschaft. Man lese nur
die Geschichte irgend einer jener Städte, z. B. des in seinen oberen
Gesellschaftsschichten fast ganz gotisch-langobardischen Perugia!
Es ist kaum begreiflich, dass bei solch unaufhörlichem Abmorden
ganzer Familien (welches begann, sobald die Stadt unabhängig ge-
worden war) einzelne Zweige doch noch ziemlich echt germanisch
bis ins 16. Jahrhundert verblieben; dann war aber das germanische
Blut erschöpft. 1) Offenbar hatte die hastig errungene Kultur, die heftige
Aneignung einer wesensfremden Bildung, dazu im schroffen Gegen-
satz die plötzliche Offenbarung des seelenverwandten Hellenentums,
vielleicht auch beginnende Kreuzung mit einem für Germanen giftigen
Blute ..... offenbar hatte dies alles nicht allein zu einem
mirakulösen Ausbruch des Genies geführt, sondern zugleich Raserei
erzeugt. Wenn je eine Verwandtschaft zwischen Genie und Wahn-
sinn dargethan werden soll, weise man auf das Italien des Tre-, Quatro-
und Cinquecento! Von bleibender Bedeutung für unsere neue Kultur,
macht dennoch diese »Renaissance« an und für sich eher den Eindruck
des Paroxysmus eines Sterbenden, als den einer Leben verbürgenden
Erscheinung. Wie durch einen Zauber schiessen tausend herrliche
Blumen empor, dort, wo unmittelbar vorher die Einförmigkeit einer
geistigen Wüste geherrscht hatte; alles blüht auf einmal auf; die eben
1) Wer zu ausführlichen geschichtlichen Studien nicht Zeit hat, lese des
Kunsthistorikers John Addington Symonds’ Kapitel über Perugia in seinen Sketches
in Italy.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |