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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Staat.
sächlich nach Canossa gehen und dort drei Tage lang im Büsserhemde
vor dem Thore stehen zu müssen. Die alten Formen werden nie
wiederkehren. Doch regen sich die Ideen des unbegrenzten Absolu-
tismus noch mächtig in unserer Mitte, sowohl innerhalb des alt-
geheiligten Rahmens der römischen Kirche, wie auch ausserhalb.
Und wo wir sie auch am Werke sehen -- ob als Jesuitismus oder
als Sozialismus, als philosophische Systematik oder als industrielles
Monopol -- da müssen wir erkennen (oder wir werden es später auf
unsere Kosten erkennen lernen): das äusserlich Grenzenlose fordert
das Doppelopfer der Persönlichkeit und der Freiheit.

Was die Kirche anbelangt, so wäre es wahrlich wenig einsichts-
voll, wollte man die Macht eines so wunderbaren Organismus wie
der römischen Hierarchie in irgend einer Beziehung geringschätzen.
Niemand vermag vorauszusagen, bis wohin sie es unter einem für
sie günstigen Stern noch bringen kann. Als im Jahre 1871 gegen
Döllinger die excommunicatio major "mit allen daran hängenden
kanonischen Folgen" ausgesprochen worden war, musste die Polizei-
direktion in München besondere Massregeln ergreifen, um das Leben
des Gebannten zu schützen; eine einzige derartige Thatsache leuchtet
in Abgründe des fanatischen Universalwahnes, die sich einmal in ganz
anderen Dimensionen vor unseren Füssen aufthun könnten.1) Doch
möchte ich auf derlei Dinge nicht viel Gewicht legen, ebensowenig
wie auf die Machinationen der obengenannten Verschwörung der
Hetzkapläne und ihrer Kreaturen; im Guten, nicht im Bösen liegt die
Quelle aller Kraft. In dem Gedanken an Katholizität, Kontinuität,
Unfehlbarkeit, göttliche Einsetzung, allumfassende, fortdauernde Offen-
barung, Gottes Reich auf Erden, Gottes Vertreter als obersten Richter,
jede irdische Laufbahn die Erfüllung eines kirchlichen Amtes -- in
dem allen liegt so viel Gutes und Schönes, dass der aufrichtige Glaube

1) Der Gebannte ist nämlich nach katholischem Kirchenrecht vogelfrei. In
Gratian findet man (Causa 23, p. 5, c. 47 nach Gibbon) den Satz aufgestellt: Homi-
cidas non esse qui excommunicatos trucidant.
Doch hatte die Kirche in früheren
Jahrhunderten (laut Decretale von Urban II.) dem Mörder eines Exkommunizierten
eine Busse auferlegt "für den Fall, dass seine Absicht bei dem Morde eine nicht
ganz lautere gewesen sei". (!) Unser liebes 19. Jahrhundert ist aber noch weiter
gegangen, und Kardinal Turrecremata, "der vornehmste Begründer der päpst-
lichen Unfehlbarkeitslehre", hat in seinem Kommentar zu Gratian sich dahin
ausgesprochen: nach der orthodoxen Lehre braucht der Mörder eines Exkommuni-
zierten keine Busse zu thun! (Man vergl. Döllinger: Briefe und Erklärungen über
die vatikanischen Dekrete,
1890, S. 103, 131 und 140.)

Staat.
sächlich nach Canossa gehen und dort drei Tage lang im Büsserhemde
vor dem Thore stehen zu müssen. Die alten Formen werden nie
wiederkehren. Doch regen sich die Ideen des unbegrenzten Absolu-
tismus noch mächtig in unserer Mitte, sowohl innerhalb des alt-
geheiligten Rahmens der römischen Kirche, wie auch ausserhalb.
Und wo wir sie auch am Werke sehen — ob als Jesuitismus oder
als Sozialismus, als philosophische Systematik oder als industrielles
Monopol — da müssen wir erkennen (oder wir werden es später auf
unsere Kosten erkennen lernen): das äusserlich Grenzenlose fordert
das Doppelopfer der Persönlichkeit und der Freiheit.

Was die Kirche anbelangt, so wäre es wahrlich wenig einsichts-
voll, wollte man die Macht eines so wunderbaren Organismus wie
der römischen Hierarchie in irgend einer Beziehung geringschätzen.
Niemand vermag vorauszusagen, bis wohin sie es unter einem für
sie günstigen Stern noch bringen kann. Als im Jahre 1871 gegen
Döllinger die excommunicatio major »mit allen daran hängenden
kanonischen Folgen« ausgesprochen worden war, musste die Polizei-
direktion in München besondere Massregeln ergreifen, um das Leben
des Gebannten zu schützen; eine einzige derartige Thatsache leuchtet
in Abgründe des fanatischen Universalwahnes, die sich einmal in ganz
anderen Dimensionen vor unseren Füssen aufthun könnten.1) Doch
möchte ich auf derlei Dinge nicht viel Gewicht legen, ebensowenig
wie auf die Machinationen der obengenannten Verschwörung der
Hetzkapläne und ihrer Kreaturen; im Guten, nicht im Bösen liegt die
Quelle aller Kraft. In dem Gedanken an Katholizität, Kontinuität,
Unfehlbarkeit, göttliche Einsetzung, allumfassende, fortdauernde Offen-
barung, Gottes Reich auf Erden, Gottes Vertreter als obersten Richter,
jede irdische Laufbahn die Erfüllung eines kirchlichen Amtes — in
dem allen liegt so viel Gutes und Schönes, dass der aufrichtige Glaube

1) Der Gebannte ist nämlich nach katholischem Kirchenrecht vogelfrei. In
Gratian findet man (Causa 23, p. 5, c. 47 nach Gibbon) den Satz aufgestellt: Homi-
cidas non esse qui excommunicatos trucidant.
Doch hatte die Kirche in früheren
Jahrhunderten (laut Decretale von Urban II.) dem Mörder eines Exkommunizierten
eine Busse auferlegt »für den Fall, dass seine Absicht bei dem Morde eine nicht
ganz lautere gewesen sei«. (!) Unser liebes 19. Jahrhundert ist aber noch weiter
gegangen, und Kardinal Turrecremata, »der vornehmste Begründer der päpst-
lichen Unfehlbarkeitslehre«, hat in seinem Kommentar zu Gratian sich dahin
ausgesprochen: nach der orthodoxen Lehre braucht der Mörder eines Exkommuni-
zierten keine Busse zu thun! (Man vergl. Döllinger: Briefe und Erklärungen über
die vatikanischen Dekrete,
1890, S. 103, 131 und 140.)
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[679/0158] Staat. sächlich nach Canossa gehen und dort drei Tage lang im Büsserhemde vor dem Thore stehen zu müssen. Die alten Formen werden nie wiederkehren. Doch regen sich die Ideen des unbegrenzten Absolu- tismus noch mächtig in unserer Mitte, sowohl innerhalb des alt- geheiligten Rahmens der römischen Kirche, wie auch ausserhalb. Und wo wir sie auch am Werke sehen — ob als Jesuitismus oder als Sozialismus, als philosophische Systematik oder als industrielles Monopol — da müssen wir erkennen (oder wir werden es später auf unsere Kosten erkennen lernen): das äusserlich Grenzenlose fordert das Doppelopfer der Persönlichkeit und der Freiheit. Was die Kirche anbelangt, so wäre es wahrlich wenig einsichts- voll, wollte man die Macht eines so wunderbaren Organismus wie der römischen Hierarchie in irgend einer Beziehung geringschätzen. Niemand vermag vorauszusagen, bis wohin sie es unter einem für sie günstigen Stern noch bringen kann. Als im Jahre 1871 gegen Döllinger die excommunicatio major »mit allen daran hängenden kanonischen Folgen« ausgesprochen worden war, musste die Polizei- direktion in München besondere Massregeln ergreifen, um das Leben des Gebannten zu schützen; eine einzige derartige Thatsache leuchtet in Abgründe des fanatischen Universalwahnes, die sich einmal in ganz anderen Dimensionen vor unseren Füssen aufthun könnten. 1) Doch möchte ich auf derlei Dinge nicht viel Gewicht legen, ebensowenig wie auf die Machinationen der obengenannten Verschwörung der Hetzkapläne und ihrer Kreaturen; im Guten, nicht im Bösen liegt die Quelle aller Kraft. In dem Gedanken an Katholizität, Kontinuität, Unfehlbarkeit, göttliche Einsetzung, allumfassende, fortdauernde Offen- barung, Gottes Reich auf Erden, Gottes Vertreter als obersten Richter, jede irdische Laufbahn die Erfüllung eines kirchlichen Amtes — in dem allen liegt so viel Gutes und Schönes, dass der aufrichtige Glaube 1) Der Gebannte ist nämlich nach katholischem Kirchenrecht vogelfrei. In Gratian findet man (Causa 23, p. 5, c. 47 nach Gibbon) den Satz aufgestellt: Homi- cidas non esse qui excommunicatos trucidant. Doch hatte die Kirche in früheren Jahrhunderten (laut Decretale von Urban II.) dem Mörder eines Exkommunizierten eine Busse auferlegt »für den Fall, dass seine Absicht bei dem Morde eine nicht ganz lautere gewesen sei«. (!) Unser liebes 19. Jahrhundert ist aber noch weiter gegangen, und Kardinal Turrecremata, »der vornehmste Begründer der päpst- lichen Unfehlbarkeitslehre«, hat in seinem Kommentar zu Gratian sich dahin ausgesprochen: nach der orthodoxen Lehre braucht der Mörder eines Exkommuni- zierten keine Busse zu thun! (Man vergl. Döllinger: Briefe und Erklärungen über die vatikanischen Dekrete, 1890, S. 103, 131 und 140.)

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 679. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/158>, abgerufen am 25.11.2024.