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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
denn unablässig der von uns Nordländern mühsam genug und unvoll-
kommen genug erkriegte geistige und materielle Besitzstand unter-
miniert und angeätzt. Ausserdem besitzt Rom, ohne dass es sie zu
suchen und sich ihnen zu verdingen brauchte, in allen Feinden des
Germanentums geborene Verbündete. Findet nicht bald unter uns eine
mächtige, gestaltungskräftige Wiedergeburt idealer Gesinnung statt, und
zwar eine spezifisch religiöse Wiedergeburt, gelingt es uns nicht bald, die
fremden Fetzen, die an unserem Christentum wie Paniere obligatorischer
Heuchelei und Unwahrhaftigkeit noch hängen, herunterzureissen, be-
sitzen wir nicht mehr die schöpferische Kraft, um aus den Worten
und dem Anblick des gekreuzigten Menschensohnes eine vollkommene,
vollkommen lebendige, der Wahrheit unseres Wesens und unserer An-
lagen, dem gegenwärtigen Zustand unserer Kultur entsprechende Religion
zu schaffen, eine Religion, so unmittelbar überzeugend, so hinreissend
schön, so gegenwärtig, so plastisch beweglich, so ewig wahr und doch
so neu, dass wir uns ihr hingeben müssen, wie das Weib ihrem Ge-
liebten, fraglos, sicher, begeistert, eine Religion, so genau unserem be-
sonderen germanischen Wesen angepasst -- diesem hochbeanlagten, doch
besonders zarten und leicht verfallenden Wesen --, dass sie die Fähig-
keit besitzt, uns im Innersten zu erfassen und zu veredeln und zu
kräftigen: gelingt das nicht, so wird aus den Schatten der Zukunft ein
zweiter Innocenz III. hervortreten und eine erneute vierte Lateransynode,
und noch einmal werden die Flammen des Inquisitionsgerichtes prasselnd
gen Himmel züngeln. Denn die Welt -- und auch der Germane -- wird
sich noch immer lieber syro-ägyptischen Mysterien in die Arme werfen,
als sich an den faden Salbadereien ethischer Gesellschaften und was es
dergleichen mehr giebt, erbauen. Und die Welt wird Recht daran thun.
Andererseits ist ein abstrakter, kasuistisch-dogmatischer, mit römischem
Aberglauben infizierter Protestantismus, wie ihn uns die Reformation
in verschiedenen Abarten übermacht hat, keine lebendige Kraft. Er
birgt eine Kraft, gewiss! eine grosse: die germanische Seele; doch
bedeutet dieses Kaleidoskop vielfältiger und innerlich inkonsequenter
Intoleranzen ein Hemmnis für diese Seele, nicht eine Förderung; daher
die tiefe Indifferenz der Mehrheit seiner Bekenner und ein bejammerns-
wertes Brachliegen der grössten Herzensgewalt: der religiösen. Rom
mag dagegen als dogmatische Religion schwach sein, seine Dogmatik
ist wenigstens konsequent; ausserdem ist gerade diese Kirche -- so-
bald ihr nur gewisse Zugeständnisse gemacht werden -- eigentümlich
tolerant und weitherzig, sie ist allumfassend wie sonst einzig der

Religion.
denn unablässig der von uns Nordländern mühsam genug und unvoll-
kommen genug erkriegte geistige und materielle Besitzstand unter-
miniert und angeätzt. Ausserdem besitzt Rom, ohne dass es sie zu
suchen und sich ihnen zu verdingen brauchte, in allen Feinden des
Germanentums geborene Verbündete. Findet nicht bald unter uns eine
mächtige, gestaltungskräftige Wiedergeburt idealer Gesinnung statt, und
zwar eine spezifisch religiöse Wiedergeburt, gelingt es uns nicht bald, die
fremden Fetzen, die an unserem Christentum wie Paniere obligatorischer
Heuchelei und Unwahrhaftigkeit noch hängen, herunterzureissen, be-
sitzen wir nicht mehr die schöpferische Kraft, um aus den Worten
und dem Anblick des gekreuzigten Menschensohnes eine vollkommene,
vollkommen lebendige, der Wahrheit unseres Wesens und unserer An-
lagen, dem gegenwärtigen Zustand unserer Kultur entsprechende Religion
zu schaffen, eine Religion, so unmittelbar überzeugend, so hinreissend
schön, so gegenwärtig, so plastisch beweglich, so ewig wahr und doch
so neu, dass wir uns ihr hingeben müssen, wie das Weib ihrem Ge-
liebten, fraglos, sicher, begeistert, eine Religion, so genau unserem be-
sonderen germanischen Wesen angepasst — diesem hochbeanlagten, doch
besonders zarten und leicht verfallenden Wesen —, dass sie die Fähig-
keit besitzt, uns im Innersten zu erfassen und zu veredeln und zu
kräftigen: gelingt das nicht, so wird aus den Schatten der Zukunft ein
zweiter Innocenz III. hervortreten und eine erneute vierte Lateransynode,
und noch einmal werden die Flammen des Inquisitionsgerichtes prasselnd
gen Himmel züngeln. Denn die Welt — und auch der Germane — wird
sich noch immer lieber syro-ägyptischen Mysterien in die Arme werfen,
als sich an den faden Salbadereien ethischer Gesellschaften und was es
dergleichen mehr giebt, erbauen. Und die Welt wird Recht daran thun.
Andererseits ist ein abstrakter, kasuistisch-dogmatischer, mit römischem
Aberglauben infizierter Protestantismus, wie ihn uns die Reformation
in verschiedenen Abarten übermacht hat, keine lebendige Kraft. Er
birgt eine Kraft, gewiss! eine grosse: die germanische Seele; doch
bedeutet dieses Kaleidoskop vielfältiger und innerlich inkonsequenter
Intoleranzen ein Hemmnis für diese Seele, nicht eine Förderung; daher
die tiefe Indifferenz der Mehrheit seiner Bekenner und ein bejammerns-
wertes Brachliegen der grössten Herzensgewalt: der religiösen. Rom
mag dagegen als dogmatische Religion schwach sein, seine Dogmatik
ist wenigstens konsequent; ausserdem ist gerade diese Kirche — so-
bald ihr nur gewisse Zugeständnisse gemacht werden — eigentümlich
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[645/0124] Religion. denn unablässig der von uns Nordländern mühsam genug und unvoll- kommen genug erkriegte geistige und materielle Besitzstand unter- miniert und angeätzt. Ausserdem besitzt Rom, ohne dass es sie zu suchen und sich ihnen zu verdingen brauchte, in allen Feinden des Germanentums geborene Verbündete. Findet nicht bald unter uns eine mächtige, gestaltungskräftige Wiedergeburt idealer Gesinnung statt, und zwar eine spezifisch religiöse Wiedergeburt, gelingt es uns nicht bald, die fremden Fetzen, die an unserem Christentum wie Paniere obligatorischer Heuchelei und Unwahrhaftigkeit noch hängen, herunterzureissen, be- sitzen wir nicht mehr die schöpferische Kraft, um aus den Worten und dem Anblick des gekreuzigten Menschensohnes eine vollkommene, vollkommen lebendige, der Wahrheit unseres Wesens und unserer An- lagen, dem gegenwärtigen Zustand unserer Kultur entsprechende Religion zu schaffen, eine Religion, so unmittelbar überzeugend, so hinreissend schön, so gegenwärtig, so plastisch beweglich, so ewig wahr und doch so neu, dass wir uns ihr hingeben müssen, wie das Weib ihrem Ge- liebten, fraglos, sicher, begeistert, eine Religion, so genau unserem be- sonderen germanischen Wesen angepasst — diesem hochbeanlagten, doch besonders zarten und leicht verfallenden Wesen —, dass sie die Fähig- keit besitzt, uns im Innersten zu erfassen und zu veredeln und zu kräftigen: gelingt das nicht, so wird aus den Schatten der Zukunft ein zweiter Innocenz III. hervortreten und eine erneute vierte Lateransynode, und noch einmal werden die Flammen des Inquisitionsgerichtes prasselnd gen Himmel züngeln. Denn die Welt — und auch der Germane — wird sich noch immer lieber syro-ägyptischen Mysterien in die Arme werfen, als sich an den faden Salbadereien ethischer Gesellschaften und was es dergleichen mehr giebt, erbauen. Und die Welt wird Recht daran thun. Andererseits ist ein abstrakter, kasuistisch-dogmatischer, mit römischem Aberglauben infizierter Protestantismus, wie ihn uns die Reformation in verschiedenen Abarten übermacht hat, keine lebendige Kraft. Er birgt eine Kraft, gewiss! eine grosse: die germanische Seele; doch bedeutet dieses Kaleidoskop vielfältiger und innerlich inkonsequenter Intoleranzen ein Hemmnis für diese Seele, nicht eine Förderung; daher die tiefe Indifferenz der Mehrheit seiner Bekenner und ein bejammerns- wertes Brachliegen der grössten Herzensgewalt: der religiösen. Rom mag dagegen als dogmatische Religion schwach sein, seine Dogmatik ist wenigstens konsequent; ausserdem ist gerade diese Kirche — so- bald ihr nur gewisse Zugeständnisse gemacht werden — eigentümlich tolerant und weitherzig, sie ist allumfassend wie sonst einzig der

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 645. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/124>, abgerufen am 24.11.2024.