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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
rührung mit dem Griechischen erwachte und es selbst die zuletzt
gereifte Kraft des Widerspruches und der Selbständigkeit aus ihm
sog, -- streng genetische ebenfalls, insoferne die Grundlage aller
exakten Wissenschaft in Betracht gezogen wird, die Mathematik, --
minder genetische und in früheren Jahren eher hemmend als fördernd,
was die beobachtenden Wissenschaften betrifft.1) Mir liegt nur das
eine ob, in wenigen Worten zu sagen, welche heimliche Kraft diesen
alten Gedanken so zähen Lebensgeist schenkte.

Wie vieles Seitherige ist inzwischen zu ewiger Vergessenheit
untergegangen, während Plato und Aristoteles, Demokrit, Euklid und
Archimedes in unserer Mitte anregend und belehrend weiterleben,
und die halbfabelhafte Gestalt des Pythagoras mit jedem Jahrhundert
grösser wird!2) Bei Dichtungen und sonstigen Kunstwerken sagen
Manche: die Erzeugnisse der Phantasie sind nicht an Ort und Zeit
gebunden, in ihnen kommt ein Absolutes zum Ausdruck, sie gehören
allen Jahrhunderten an. In dieser Fassung ist der Gedanke durchaus
falsch: nichts altert im Allgemeinen schneller als Kunst; einzig die
unbedingteste Genialität, oder aber zufällige historische Bedeutung
(wie bei Juvenal u. a.) verbürgen hier Fortdauer; nur wenige Romane,
nur sehr vereinzelte Gedichte können nach 100 Jahren zu wirklichem
vollen Genusse gelesen werden, Bühnendichtungen, Malerei, Musik
-- -- das alles wird in unglaublich kurzer Zeit altbacken; vor Canova's
und Thorwaldsen's Werken vermögen schon vor Schluss des Jahr-
hunderts keine Selbstgalvanisierungsversuche Begeisterung zu erwecken.
Ausserdem lehrt auch die Erfahrung, dass hellenisches Denken
mindestens eben so lebenskräftig ist wie hellenisches Dichten. Und
ich meine: was dem Denken eines Demokrit, eines Plato, eines
Euklid, eines Aristarch3) ewige Jugend verleiht, das ist genau der selbe
Geist, die selbe Geisteskraft, welche Homer und Phidias unsterblich
jung macht: es ist das Schöpferische und -- in einem weitesten
Sinn des Wortes -- recht eigentlich Künstlerische. Es kommt

1) Zu diesem letzten Punkt muss jedoch bemerkt werden, dass manche
glänzendste Leistung des hellenischen Geistes auf diesem Gebiete uns bis vor
kurzem unbekannt war.
2) Was die Rückkehr zu einer früheren Einsicht bedeutet. Als ein Orakel
den Römern befohlen hatte, dem weisesten der Hellenen ein Standbild zu errichten,
stellten sie die Statue des Pythagoras auf. (Plutarch: Numa, Kap. XI.)
3) Aristarch von Samos, der Entdecker des sogenannten Kopernikanischen
Weltsystems.

Das Erbe der alten Welt.
rührung mit dem Griechischen erwachte und es selbst die zuletzt
gereifte Kraft des Widerspruches und der Selbständigkeit aus ihm
sog, — streng genetische ebenfalls, insoferne die Grundlage aller
exakten Wissenschaft in Betracht gezogen wird, die Mathematik, —
minder genetische und in früheren Jahren eher hemmend als fördernd,
was die beobachtenden Wissenschaften betrifft.1) Mir liegt nur das
eine ob, in wenigen Worten zu sagen, welche heimliche Kraft diesen
alten Gedanken so zähen Lebensgeist schenkte.

Wie vieles Seitherige ist inzwischen zu ewiger Vergessenheit
untergegangen, während Plato und Aristoteles, Demokrit, Euklid und
Archimedes in unserer Mitte anregend und belehrend weiterleben,
und die halbfabelhafte Gestalt des Pythagoras mit jedem Jahrhundert
grösser wird!2) Bei Dichtungen und sonstigen Kunstwerken sagen
Manche: die Erzeugnisse der Phantasie sind nicht an Ort und Zeit
gebunden, in ihnen kommt ein Absolutes zum Ausdruck, sie gehören
allen Jahrhunderten an. In dieser Fassung ist der Gedanke durchaus
falsch: nichts altert im Allgemeinen schneller als Kunst; einzig die
unbedingteste Genialität, oder aber zufällige historische Bedeutung
(wie bei Juvenal u. a.) verbürgen hier Fortdauer; nur wenige Romane,
nur sehr vereinzelte Gedichte können nach 100 Jahren zu wirklichem
vollen Genusse gelesen werden, Bühnendichtungen, Malerei, Musik
— — das alles wird in unglaublich kurzer Zeit altbacken; vor Canova’s
und Thorwaldsen’s Werken vermögen schon vor Schluss des Jahr-
hunderts keine Selbstgalvanisierungsversuche Begeisterung zu erwecken.
Ausserdem lehrt auch die Erfahrung, dass hellenisches Denken
mindestens eben so lebenskräftig ist wie hellenisches Dichten. Und
ich meine: was dem Denken eines Demokrit, eines Plato, eines
Euklid, eines Aristarch3) ewige Jugend verleiht, das ist genau der selbe
Geist, die selbe Geisteskraft, welche Homer und Phidias unsterblich
jung macht: es ist das Schöpferische und — in einem weitesten
Sinn des Wortes — recht eigentlich Künstlerische. Es kommt

1) Zu diesem letzten Punkt muss jedoch bemerkt werden, dass manche
glänzendste Leistung des hellenischen Geistes auf diesem Gebiete uns bis vor
kurzem unbekannt war.
2) Was die Rückkehr zu einer früheren Einsicht bedeutet. Als ein Orakel
den Römern befohlen hatte, dem weisesten der Hellenen ein Standbild zu errichten,
stellten sie die Statue des Pythagoras auf. (Plutarch: Numa, Kap. XI.)
3) Aristarch von Samos, der Entdecker des sogenannten Kopernikanischen
Weltsystems.
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[76/0099] Das Erbe der alten Welt. rührung mit dem Griechischen erwachte und es selbst die zuletzt gereifte Kraft des Widerspruches und der Selbständigkeit aus ihm sog, — streng genetische ebenfalls, insoferne die Grundlage aller exakten Wissenschaft in Betracht gezogen wird, die Mathematik, — minder genetische und in früheren Jahren eher hemmend als fördernd, was die beobachtenden Wissenschaften betrifft. 1) Mir liegt nur das eine ob, in wenigen Worten zu sagen, welche heimliche Kraft diesen alten Gedanken so zähen Lebensgeist schenkte. Wie vieles Seitherige ist inzwischen zu ewiger Vergessenheit untergegangen, während Plato und Aristoteles, Demokrit, Euklid und Archimedes in unserer Mitte anregend und belehrend weiterleben, und die halbfabelhafte Gestalt des Pythagoras mit jedem Jahrhundert grösser wird! 2) Bei Dichtungen und sonstigen Kunstwerken sagen Manche: die Erzeugnisse der Phantasie sind nicht an Ort und Zeit gebunden, in ihnen kommt ein Absolutes zum Ausdruck, sie gehören allen Jahrhunderten an. In dieser Fassung ist der Gedanke durchaus falsch: nichts altert im Allgemeinen schneller als Kunst; einzig die unbedingteste Genialität, oder aber zufällige historische Bedeutung (wie bei Juvenal u. a.) verbürgen hier Fortdauer; nur wenige Romane, nur sehr vereinzelte Gedichte können nach 100 Jahren zu wirklichem vollen Genusse gelesen werden, Bühnendichtungen, Malerei, Musik — — das alles wird in unglaublich kurzer Zeit altbacken; vor Canova’s und Thorwaldsen’s Werken vermögen schon vor Schluss des Jahr- hunderts keine Selbstgalvanisierungsversuche Begeisterung zu erwecken. Ausserdem lehrt auch die Erfahrung, dass hellenisches Denken mindestens eben so lebenskräftig ist wie hellenisches Dichten. Und ich meine: was dem Denken eines Demokrit, eines Plato, eines Euklid, eines Aristarch 3) ewige Jugend verleiht, das ist genau der selbe Geist, die selbe Geisteskraft, welche Homer und Phidias unsterblich jung macht: es ist das Schöpferische und — in einem weitesten Sinn des Wortes — recht eigentlich Künstlerische. Es kommt 1) Zu diesem letzten Punkt muss jedoch bemerkt werden, dass manche glänzendste Leistung des hellenischen Geistes auf diesem Gebiete uns bis vor kurzem unbekannt war. 2) Was die Rückkehr zu einer früheren Einsicht bedeutet. Als ein Orakel den Römern befohlen hatte, dem weisesten der Hellenen ein Standbild zu errichten, stellten sie die Statue des Pythagoras auf. (Plutarch: Numa, Kap. XI.) 3) Aristarch von Samos, der Entdecker des sogenannten Kopernikanischen Weltsystems.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/99>, abgerufen am 24.11.2024.