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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Hellenische Kunst und Philosophie.
und die Erfahrung, dass der Einzelne, Vereinzelte gar nicht wirklich
original sein kann. Originalität ist nämlich etwas ganz anderes als
Willkür; Originalität ist im Gegenteil die freie Befolgung des von
der besonderen Natur der betreffenden Persönlichkeit unwillkürlich
ihr vorgezeichneten Weges; gerade die Freiheit hierzu besteht aber
für den Künstler nur in dem Element einer durch und durch künst-
lerischen Kultur; eine solche findet er heute nicht. Zwar wäre es
durchaus ungerecht, unserer heutigen europäischen Welt künstlerische
Regungen abzusprechen: in dem Interesse für Musik macht sich eine
ganz gewaltige Gährung der Geister bemerkbar, und das für moderne
Malerei greift zwar nur in bestimmte, aber doch in weite Kreise, und
erregt eine fast unheimliche Leidenschaftlichkeit; das alles bleibt jedoch
ausserhalb des Lebens der Völker, es bildet eine Zugabe, eine Zugabe
für Mussestunden und müssige Menschen; daher herrschen Mode und
Laune und mannigfaltige Lüge, und die Atmosphäre, die den echten
Künstler umgiebt, entbehrt jeglicher Elastizität. Selbst das kräftigste
Genie ist bei uns gebunden, gehemmt, von vielen Seiten zurück-
gestossen. Und so lebt denn hellenische Kunst als ein verlorenes,
wieder zu erstrebendes Ideal in unserer Mitte fort.

Unter einem fröhlicheren Sterne geniessen hellenische Philo-Das Gestalten.
sophie und hellenische Naturforschung bei uns Kindern des 19. Jahr-
hunderts ein gern und dankbar gewährtes Gastrecht. Auch hier handelt
es sich nicht um blosse lares und feiern wir nicht lediglich einen
Ahnenkultus; hellenische Philosophie ist im Gegenteil äusserst lebendig
unter uns und hellenische Wissenschaft, so unbeholfen auf der einen
Seite und so unbegreiflich intuitionskräftig auf der anderen, nötigt
uns nicht allein ein historisches, sondern auch ein gegenwärtiges
Interesse ab. Die reine Freude, die wir bei der Betrachtung helleni-
schen Denkens empfinden, dürfte zum Teil von dem Bewusstsein
herkommen, dass wir hier über unsere grossen Vorfahren weiter
hinausgeschritten sind. Unsere Philosophie ist philosophischer, unsere
Wissenschaft wissenschaftlicher geworden: eine Progression, wie sie
auf dem Gebiete der Kunst leider nicht stattgefunden hat. In Bezug
auf Philosophie und Wissenschaft hat sich unsere neue Kultur ihres
hellenischen Ursprunges würdig erwiesen; wir haben ein gutes Gewissen.

Es kann nicht meine Aufgabe sein, hier Beziehungen nachzu-
weisen, die jedem Gebildeten bekannt sein müssen: streng genetische
was die Philosophie anbelangt, da unser Denken erst bei der Be-

Hellenische Kunst und Philosophie.
und die Erfahrung, dass der Einzelne, Vereinzelte gar nicht wirklich
original sein kann. Originalität ist nämlich etwas ganz anderes als
Willkür; Originalität ist im Gegenteil die freie Befolgung des von
der besonderen Natur der betreffenden Persönlichkeit unwillkürlich
ihr vorgezeichneten Weges; gerade die Freiheit hierzu besteht aber
für den Künstler nur in dem Element einer durch und durch künst-
lerischen Kultur; eine solche findet er heute nicht. Zwar wäre es
durchaus ungerecht, unserer heutigen europäischen Welt künstlerische
Regungen abzusprechen: in dem Interesse für Musik macht sich eine
ganz gewaltige Gährung der Geister bemerkbar, und das für moderne
Malerei greift zwar nur in bestimmte, aber doch in weite Kreise, und
erregt eine fast unheimliche Leidenschaftlichkeit; das alles bleibt jedoch
ausserhalb des Lebens der Völker, es bildet eine Zugabe, eine Zugabe
für Mussestunden und müssige Menschen; daher herrschen Mode und
Laune und mannigfaltige Lüge, und die Atmosphäre, die den echten
Künstler umgiebt, entbehrt jeglicher Elastizität. Selbst das kräftigste
Genie ist bei uns gebunden, gehemmt, von vielen Seiten zurück-
gestossen. Und so lebt denn hellenische Kunst als ein verlorenes,
wieder zu erstrebendes Ideal in unserer Mitte fort.

Unter einem fröhlicheren Sterne geniessen hellenische Philo-Das Gestalten.
sophie und hellenische Naturforschung bei uns Kindern des 19. Jahr-
hunderts ein gern und dankbar gewährtes Gastrecht. Auch hier handelt
es sich nicht um blosse lares und feiern wir nicht lediglich einen
Ahnenkultus; hellenische Philosophie ist im Gegenteil äusserst lebendig
unter uns und hellenische Wissenschaft, so unbeholfen auf der einen
Seite und so unbegreiflich intuitionskräftig auf der anderen, nötigt
uns nicht allein ein historisches, sondern auch ein gegenwärtiges
Interesse ab. Die reine Freude, die wir bei der Betrachtung helleni-
schen Denkens empfinden, dürfte zum Teil von dem Bewusstsein
herkommen, dass wir hier über unsere grossen Vorfahren weiter
hinausgeschritten sind. Unsere Philosophie ist philosophischer, unsere
Wissenschaft wissenschaftlicher geworden: eine Progression, wie sie
auf dem Gebiete der Kunst leider nicht stattgefunden hat. In Bezug
auf Philosophie und Wissenschaft hat sich unsere neue Kultur ihres
hellenischen Ursprunges würdig erwiesen; wir haben ein gutes Gewissen.

Es kann nicht meine Aufgabe sein, hier Beziehungen nachzu-
weisen, die jedem Gebildeten bekannt sein müssen: streng genetische
was die Philosophie anbelangt, da unser Denken erst bei der Be-

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[75/0098] Hellenische Kunst und Philosophie. und die Erfahrung, dass der Einzelne, Vereinzelte gar nicht wirklich original sein kann. Originalität ist nämlich etwas ganz anderes als Willkür; Originalität ist im Gegenteil die freie Befolgung des von der besonderen Natur der betreffenden Persönlichkeit unwillkürlich ihr vorgezeichneten Weges; gerade die Freiheit hierzu besteht aber für den Künstler nur in dem Element einer durch und durch künst- lerischen Kultur; eine solche findet er heute nicht. Zwar wäre es durchaus ungerecht, unserer heutigen europäischen Welt künstlerische Regungen abzusprechen: in dem Interesse für Musik macht sich eine ganz gewaltige Gährung der Geister bemerkbar, und das für moderne Malerei greift zwar nur in bestimmte, aber doch in weite Kreise, und erregt eine fast unheimliche Leidenschaftlichkeit; das alles bleibt jedoch ausserhalb des Lebens der Völker, es bildet eine Zugabe, eine Zugabe für Mussestunden und müssige Menschen; daher herrschen Mode und Laune und mannigfaltige Lüge, und die Atmosphäre, die den echten Künstler umgiebt, entbehrt jeglicher Elastizität. Selbst das kräftigste Genie ist bei uns gebunden, gehemmt, von vielen Seiten zurück- gestossen. Und so lebt denn hellenische Kunst als ein verlorenes, wieder zu erstrebendes Ideal in unserer Mitte fort. Unter einem fröhlicheren Sterne geniessen hellenische Philo- sophie und hellenische Naturforschung bei uns Kindern des 19. Jahr- hunderts ein gern und dankbar gewährtes Gastrecht. Auch hier handelt es sich nicht um blosse lares und feiern wir nicht lediglich einen Ahnenkultus; hellenische Philosophie ist im Gegenteil äusserst lebendig unter uns und hellenische Wissenschaft, so unbeholfen auf der einen Seite und so unbegreiflich intuitionskräftig auf der anderen, nötigt uns nicht allein ein historisches, sondern auch ein gegenwärtiges Interesse ab. Die reine Freude, die wir bei der Betrachtung helleni- schen Denkens empfinden, dürfte zum Teil von dem Bewusstsein herkommen, dass wir hier über unsere grossen Vorfahren weiter hinausgeschritten sind. Unsere Philosophie ist philosophischer, unsere Wissenschaft wissenschaftlicher geworden: eine Progression, wie sie auf dem Gebiete der Kunst leider nicht stattgefunden hat. In Bezug auf Philosophie und Wissenschaft hat sich unsere neue Kultur ihres hellenischen Ursprunges würdig erwiesen; wir haben ein gutes Gewissen. Das Gestalten. Es kann nicht meine Aufgabe sein, hier Beziehungen nachzu- weisen, die jedem Gebildeten bekannt sein müssen: streng genetische was die Philosophie anbelangt, da unser Denken erst bei der Be-

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/98>, abgerufen am 24.11.2024.