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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Hellenische Kunst und Philosophie.
abgemarterten, blutärmsten Griechen decken muss, die aber nicht
einmal Philosophen, sondern lediglich ziemlich platte Moralisten sind?
Wie weit muss es mit der Ungenialität gekommen sein, wenn ein
guter Kaiser, der in seinen Mussestunden Maximen aufgeschrieben
hat, als "Denker" der Verehrung kommender Geschlechter anem-
pfohlen wird!1) Wo ist ein grosser, schöpferischer Naturforscher unter
den Römern? Doch nicht etwa der fleissige Konversationslexikons-
redakteur Plinius? Wo ein Mathematiker von Bedeutung? Wo ein
Meteorolog, ein Geograph, ein Astronom? Alles, was unter Roms
Herrschaft in diesen und anderen Wissenschaften geleistet wurde,
alles ohne Ausnahme stammt von Griechen. Der poetische Urborn
war aber versiegt, und so versiegte nach und nach auch bei den
Griechen des Römertums das schöpferische Denken, die schöpferische
Beobachtung. Der belebende Hauch des Genies war verweht; weder
in Rom noch in Alexandrien war von dieser Himmelsnahrung des
menschlichen Geistes für die noch immer aufwärts strebenden Hellenen

1) Lucretius könnte man allenfalls nennen, sowohl als Denker wie als
Dichter gewiss ein bewundernswerter Mann; die Gedanken sind aber überall
eingestandenermassen griechische, und auch der ganze poetische Apparat ist ein
griechischer. Und dabei liegt doch auf seiner grossen Dichtung der tötliche
Schatten jenes Skepticismus, der über kurz oder lang zur Unproduktivität
führt, und der sorgfältig zu unterscheiden ist von der tiefen Erkenntnis wahrhaft
religiöser Gemüter, die das Bildliche an ihren Vorstellungen gewahr werden, ohne
deswegen an der erhabenen Wahrheit des innerlich Geahnten, Unerforschlichen
zu zweifeln; wie wenn z. B. der Vedische Weise plötzlich ausruft:
"Doch wem ist auszuforschen es gelungen,
Wer hat, woher die Schöpfung stammt, vernommen?
Die Götter sind diesseits von ihr entsprungen!
Wer sagt es also, wo sie hergekommen?" (Rigveda X, 129.)

oder wie Herodot in der vor wenigen Seiten angeführten Stelle, wo er meint, der
Dichter habe die Götter geschaffen. Und Epikur selber, der "Gottesleugner", der
Mann, den Lucretius als den Grössten aller Sterblichen bezeichnet, der Mann, von
dem er seine ganze Lehre entnimmt! erfahren wir nicht gerade über Epikur, dass
bei ihm "Religiosität gleichsam ein angeborenes Gefühl gewesen sein muss"
(siehe die von Goethe empfohlene Lebensskizze Epikur's von K. L. von Knebel)?
"Nie, rief Diokles aus, als er Epikur einstmals im Tempel fand, nie habe ich
Zeus grösser gesehen, als da Epikur zu seinen Füssen lag!" Der Lateiner glaubte
das letzte Wort der Weisheit mit seinem Primus in orbe deos fecit timor gesprochen
zu haben; der Grieche dagegen kniete als aufgeklärter Mann noch inbrünstiger
als ehedem vor dem herrlichen Gottesbilde nieder, welches Heldenmut sich frei
erschaffen hatte, und bezeugte hiermit sein Genie.

Hellenische Kunst und Philosophie.
abgemarterten, blutärmsten Griechen decken muss, die aber nicht
einmal Philosophen, sondern lediglich ziemlich platte Moralisten sind?
Wie weit muss es mit der Ungenialität gekommen sein, wenn ein
guter Kaiser, der in seinen Mussestunden Maximen aufgeschrieben
hat, als »Denker« der Verehrung kommender Geschlechter anem-
pfohlen wird!1) Wo ist ein grosser, schöpferischer Naturforscher unter
den Römern? Doch nicht etwa der fleissige Konversationslexikons-
redakteur Plinius? Wo ein Mathematiker von Bedeutung? Wo ein
Meteorolog, ein Geograph, ein Astronom? Alles, was unter Roms
Herrschaft in diesen und anderen Wissenschaften geleistet wurde,
alles ohne Ausnahme stammt von Griechen. Der poetische Urborn
war aber versiegt, und so versiegte nach und nach auch bei den
Griechen des Römertums das schöpferische Denken, die schöpferische
Beobachtung. Der belebende Hauch des Genies war verweht; weder
in Rom noch in Alexandrien war von dieser Himmelsnahrung des
menschlichen Geistes für die noch immer aufwärts strebenden Hellenen

1) Lucretius könnte man allenfalls nennen, sowohl als Denker wie als
Dichter gewiss ein bewundernswerter Mann; die Gedanken sind aber überall
eingestandenermassen griechische, und auch der ganze poetische Apparat ist ein
griechischer. Und dabei liegt doch auf seiner grossen Dichtung der tötliche
Schatten jenes Skepticismus, der über kurz oder lang zur Unproduktivität
führt, und der sorgfältig zu unterscheiden ist von der tiefen Erkenntnis wahrhaft
religiöser Gemüter, die das Bildliche an ihren Vorstellungen gewahr werden, ohne
deswegen an der erhabenen Wahrheit des innerlich Geahnten, Unerforschlichen
zu zweifeln; wie wenn z. B. der Vedische Weise plötzlich ausruft:
»Doch wem ist auszuforschen es gelungen,
Wer hat, woher die Schöpfung stammt, vernommen?
Die Götter sind diesseits von ihr entsprungen!
Wer sagt es also, wo sie hergekommen?« (Rigveda X, 129.)

oder wie Herodot in der vor wenigen Seiten angeführten Stelle, wo er meint, der
Dichter habe die Götter geschaffen. Und Epikur selber, der »Gottesleugner«, der
Mann, den Lucretius als den Grössten aller Sterblichen bezeichnet, der Mann, von
dem er seine ganze Lehre entnimmt! erfahren wir nicht gerade über Epikur, dass
bei ihm »Religiosität gleichsam ein angeborenes Gefühl gewesen sein muss«
(siehe die von Goethe empfohlene Lebensskizze Epikur’s von K. L. von Knebel)?
»Nie, rief Diokles aus, als er Epikur einstmals im Tempel fand, nie habe ich
Zeus grösser gesehen, als da Epikur zu seinen Füssen lag!« Der Lateiner glaubte
das letzte Wort der Weisheit mit seinem Primus in orbe deos fecit timor gesprochen
zu haben; der Grieche dagegen kniete als aufgeklärter Mann noch inbrünstiger
als ehedem vor dem herrlichen Gottesbilde nieder, welches Heldenmut sich frei
erschaffen hatte, und bezeugte hiermit sein Genie.
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[71/0094] Hellenische Kunst und Philosophie. abgemarterten, blutärmsten Griechen decken muss, die aber nicht einmal Philosophen, sondern lediglich ziemlich platte Moralisten sind? Wie weit muss es mit der Ungenialität gekommen sein, wenn ein guter Kaiser, der in seinen Mussestunden Maximen aufgeschrieben hat, als »Denker« der Verehrung kommender Geschlechter anem- pfohlen wird! 1) Wo ist ein grosser, schöpferischer Naturforscher unter den Römern? Doch nicht etwa der fleissige Konversationslexikons- redakteur Plinius? Wo ein Mathematiker von Bedeutung? Wo ein Meteorolog, ein Geograph, ein Astronom? Alles, was unter Roms Herrschaft in diesen und anderen Wissenschaften geleistet wurde, alles ohne Ausnahme stammt von Griechen. Der poetische Urborn war aber versiegt, und so versiegte nach und nach auch bei den Griechen des Römertums das schöpferische Denken, die schöpferische Beobachtung. Der belebende Hauch des Genies war verweht; weder in Rom noch in Alexandrien war von dieser Himmelsnahrung des menschlichen Geistes für die noch immer aufwärts strebenden Hellenen 1) Lucretius könnte man allenfalls nennen, sowohl als Denker wie als Dichter gewiss ein bewundernswerter Mann; die Gedanken sind aber überall eingestandenermassen griechische, und auch der ganze poetische Apparat ist ein griechischer. Und dabei liegt doch auf seiner grossen Dichtung der tötliche Schatten jenes Skepticismus, der über kurz oder lang zur Unproduktivität führt, und der sorgfältig zu unterscheiden ist von der tiefen Erkenntnis wahrhaft religiöser Gemüter, die das Bildliche an ihren Vorstellungen gewahr werden, ohne deswegen an der erhabenen Wahrheit des innerlich Geahnten, Unerforschlichen zu zweifeln; wie wenn z. B. der Vedische Weise plötzlich ausruft: »Doch wem ist auszuforschen es gelungen, Wer hat, woher die Schöpfung stammt, vernommen? Die Götter sind diesseits von ihr entsprungen! Wer sagt es also, wo sie hergekommen?« (Rigveda X, 129.) oder wie Herodot in der vor wenigen Seiten angeführten Stelle, wo er meint, der Dichter habe die Götter geschaffen. Und Epikur selber, der »Gottesleugner«, der Mann, den Lucretius als den Grössten aller Sterblichen bezeichnet, der Mann, von dem er seine ganze Lehre entnimmt! erfahren wir nicht gerade über Epikur, dass bei ihm »Religiosität gleichsam ein angeborenes Gefühl gewesen sein muss« (siehe die von Goethe empfohlene Lebensskizze Epikur’s von K. L. von Knebel)? »Nie, rief Diokles aus, als er Epikur einstmals im Tempel fand, nie habe ich Zeus grösser gesehen, als da Epikur zu seinen Füssen lag!« Der Lateiner glaubte das letzte Wort der Weisheit mit seinem Primus in orbe deos fecit timor gesprochen zu haben; der Grieche dagegen kniete als aufgeklärter Mann noch inbrünstiger als ehedem vor dem herrlichen Gottesbilde nieder, welches Heldenmut sich frei erschaffen hatte, und bezeugte hiermit sein Genie.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/94>, abgerufen am 24.11.2024.