Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Hellenische Kunst und Philosophie. durch die Polierarbeit der Forschung hervortrat, immer mehr vonder unvergleichlichen, göttlichen Gestaltungskraft des ursprünglichen Bildners. Welche unerhörte Macht der Schönheit musste nicht Werken zu eigen sein, welche Jahrhunderte hindurch wildbewegten sozialen Verhältnissen, und während noch längerer Zeit dem entweihenden Ansturm von Beschränktheit, Mittelmässigkeit und Pseudogenialität so erfolgreich trotzen konnten, dass noch heute aus diesen Trümmern der ewig-jugendliche Zauber künstlerischer Vollendung als die gute Fee unserer eigenen Kultur uns entgegentritt! Zugleich führten auch andere Forschungen, die ihren eigenen, unabhängigen Weg gegangen waren -- die geschichtlichen und mythologischen Studien -- zu dem sichern Ergebnis, Homer müsse eine historische Persönlichkeit gewesen sein. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass sowohl Sage wie Mythe sehr frei und nach bestimmten Prinzipien bewusster künstlerischer Ge- staltung in diesen Dichtungen behandelt worden sind. Um das Wesent- lichste nur zu nennen: Homer war ein Vereinfacher ohne gleichen, er entwirrte den Knäuel populärer Mythen, und aus dem planlosen Durcheinander volksmässiger Sagen, die von Gau zu Gau anders lauteten, wob er einige wenige bestimmte Gestalten, in denen alle Hellenen sich und ihre Götter erkannten, obwohl gerade diese Darstellung ihnen durchaus neu war. -- Was wir jetzt so mühevoll entdeckt haben, wussten die Alten sehr gut; ich erinnere an die merkwürdige Stelle bei Herodot: "Von den Pelasgern haben die Hellenen die Götter angenommen. Woher aber ein jeglicher der Götter stammt, und ob sie alle immer da waren und von welcher Gestalt sie sind, das wissen wir Hellenen so zu sagen erst seit gestern. Denn Hesiod und Homer sind es zunächst, welche den Griechen ihr Göttergeschlecht geschaffen, den Göttern ihre Namen gegeben, sowie Ehren und Künste unter sie verteilt und ihre Gestalten bezeichnet haben. Die Dichter aber, welche angeblich vor diesen beiden Männern gelebt haben sollen, sind, nach meiner Meinung wenigstens, erst nach ihnen aufgetreten." (Buch II, Abschn. 53.) Hesiod hat etwa ein Jahr- hundert nach Homer gelebt und stand unter seinem unmittelbaren Einfluss; bis auf diesen geringen Irrtum enthält der einfache naive Satz Herodot's alles, was die kritische Riesenarbeit eines Jahrhunderts ans Licht gefördert hat. Dass die Dichter, welche nach der priester- lichen Tradition vor Homer gelebt haben sollten -- wie z. B. Orpheus, Musaeos, Eumolpos aus dem thrakischen, oder Olen und andere aus dem delischen Kreise -- in Wirklichkeit nach ihm lebten, ist er- 5*
Hellenische Kunst und Philosophie. durch die Polierarbeit der Forschung hervortrat, immer mehr vonder unvergleichlichen, göttlichen Gestaltungskraft des ursprünglichen Bildners. Welche unerhörte Macht der Schönheit musste nicht Werken zu eigen sein, welche Jahrhunderte hindurch wildbewegten sozialen Verhältnissen, und während noch längerer Zeit dem entweihenden Ansturm von Beschränktheit, Mittelmässigkeit und Pseudogenialität so erfolgreich trotzen konnten, dass noch heute aus diesen Trümmern der ewig-jugendliche Zauber künstlerischer Vollendung als die gute Fee unserer eigenen Kultur uns entgegentritt! Zugleich führten auch andere Forschungen, die ihren eigenen, unabhängigen Weg gegangen waren — die geschichtlichen und mythologischen Studien — zu dem sichern Ergebnis, Homer müsse eine historische Persönlichkeit gewesen sein. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass sowohl Sage wie Mythe sehr frei und nach bestimmten Prinzipien bewusster künstlerischer Ge- staltung in diesen Dichtungen behandelt worden sind. Um das Wesent- lichste nur zu nennen: Homer war ein Vereinfacher ohne gleichen, er entwirrte den Knäuel populärer Mythen, und aus dem planlosen Durcheinander volksmässiger Sagen, die von Gau zu Gau anders lauteten, wob er einige wenige bestimmte Gestalten, in denen alle Hellenen sich und ihre Götter erkannten, obwohl gerade diese Darstellung ihnen durchaus neu war. — Was wir jetzt so mühevoll entdeckt haben, wussten die Alten sehr gut; ich erinnere an die merkwürdige Stelle bei Herodot: »Von den Pelasgern haben die Hellenen die Götter angenommen. Woher aber ein jeglicher der Götter stammt, und ob sie alle immer da waren und von welcher Gestalt sie sind, das wissen wir Hellenen so zu sagen erst seit gestern. Denn Hesiod und Homer sind es zunächst, welche den Griechen ihr Göttergeschlecht geschaffen, den Göttern ihre Namen gegeben, sowie Ehren und Künste unter sie verteilt und ihre Gestalten bezeichnet haben. Die Dichter aber, welche angeblich vor diesen beiden Männern gelebt haben sollen, sind, nach meiner Meinung wenigstens, erst nach ihnen aufgetreten.« (Buch II, Abschn. 53.) Hesiod hat etwa ein Jahr- hundert nach Homer gelebt und stand unter seinem unmittelbaren Einfluss; bis auf diesen geringen Irrtum enthält der einfache naive Satz Herodot’s alles, was die kritische Riesenarbeit eines Jahrhunderts ans Licht gefördert hat. Dass die Dichter, welche nach der priester- lichen Tradition vor Homer gelebt haben sollten — wie z. B. Orpheus, Musaeos, Eumolpos aus dem thrakischen, oder Olen und andere aus dem delischen Kreise — in Wirklichkeit nach ihm lebten, ist er- 5*
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Hellenische Kunst und Philosophie.
durch die Polierarbeit der Forschung hervortrat, immer mehr von
der unvergleichlichen, göttlichen Gestaltungskraft des ursprünglichen
Bildners. Welche unerhörte Macht der Schönheit musste nicht Werken
zu eigen sein, welche Jahrhunderte hindurch wildbewegten sozialen
Verhältnissen, und während noch längerer Zeit dem entweihenden
Ansturm von Beschränktheit, Mittelmässigkeit und Pseudogenialität so
erfolgreich trotzen konnten, dass noch heute aus diesen Trümmern
der ewig-jugendliche Zauber künstlerischer Vollendung als die gute Fee
unserer eigenen Kultur uns entgegentritt! Zugleich führten auch andere
Forschungen, die ihren eigenen, unabhängigen Weg gegangen waren —
die geschichtlichen und mythologischen Studien — zu dem sichern
Ergebnis, Homer müsse eine historische Persönlichkeit gewesen sein.
Es hat sich nämlich herausgestellt, dass sowohl Sage wie Mythe sehr
frei und nach bestimmten Prinzipien bewusster künstlerischer Ge-
staltung in diesen Dichtungen behandelt worden sind. Um das Wesent-
lichste nur zu nennen: Homer war ein Vereinfacher ohne
gleichen, er entwirrte den Knäuel populärer Mythen, und aus dem
planlosen Durcheinander volksmässiger Sagen, die von Gau zu Gau
anders lauteten, wob er einige wenige bestimmte Gestalten, in denen
alle Hellenen sich und ihre Götter erkannten, obwohl gerade diese
Darstellung ihnen durchaus neu war. — Was wir jetzt so mühevoll
entdeckt haben, wussten die Alten sehr gut; ich erinnere an die
merkwürdige Stelle bei Herodot: »Von den Pelasgern haben die
Hellenen die Götter angenommen. Woher aber ein jeglicher der
Götter stammt, und ob sie alle immer da waren und von welcher
Gestalt sie sind, das wissen wir Hellenen so zu sagen erst seit gestern.
Denn Hesiod und Homer sind es zunächst, welche den Griechen ihr
Göttergeschlecht geschaffen, den Göttern ihre Namen gegeben, sowie
Ehren und Künste unter sie verteilt und ihre Gestalten bezeichnet
haben. Die Dichter aber, welche angeblich vor diesen beiden Männern
gelebt haben sollen, sind, nach meiner Meinung wenigstens, erst nach
ihnen aufgetreten.« (Buch II, Abschn. 53.) Hesiod hat etwa ein Jahr-
hundert nach Homer gelebt und stand unter seinem unmittelbaren
Einfluss; bis auf diesen geringen Irrtum enthält der einfache naive
Satz Herodot’s alles, was die kritische Riesenarbeit eines Jahrhunderts
ans Licht gefördert hat. Dass die Dichter, welche nach der priester-
lichen Tradition vor Homer gelebt haben sollten — wie z. B. Orpheus,
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