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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
Tier und
Mensch.

Nicht jede künstliche Bethätigung ist Kunst. Zahlreiche Tiere
führen äusserst kunstvolle Bauten auf; der Gesang der Nachtigall
wetteifert erfolgreich mit dem Naturgesang wilder Menschen; will-
kürliche Nachahmung treffen wir hochentwickelt im Tierreich an,
und zwar auf den verschiedensten Gebieten -- Nachahmung der
Thätigkeit, des Lautes, der Form -- wobei noch zu bedenken ist,
dass wir bis jetzt so gut wie gar nichts von dem Leben der höheren
Affen wissen;1) die Sprache, d. h. also die Mitteilung von Empfindungen
und Urteilen durch ein Individuum an ein anderes, ist durch das
ganze Reich der Animalität weit verbreitet und verfügt oftmals über
so unbegreiflich sichere Mittel, dass nicht allein Anthropologen, sondern
auch Philologen2) die Warnung nicht für überflüssig halten, man
dürfe nicht einzig das Erzittern menschlicher Stimmbänder, überhaupt
nicht bloss den Laut für Sprache halten;3) u. s. w. Durch die instinkt-
mässige Zusammenfügung zu staatlichen Organisationen, und seien
sie noch so vielästig verwickelt, erzielt das menschliche Geschlecht
ebenfalls keinen prinzipiellen Fortschritt über die unendlich kom-
plizierten Tierstaaten; neuere Soziologen bringen sogar die Entstehung
der menschlichen Gesellschaft in engorganische Beziehung zu der Ent-
wicklung der sozialen Instinkte im umgebenden Tierreich.4) Betrachtet

1) Siehe jedoch die Beobachtungen des J. G. Romanes an einem weib-
lichen Schimpansen, am ausführlichsten in der Zeitschrift Nature, Band XL,
S. 160 ff., kürzer in den Büchern desselben Verfassers. In kurzer Zeit lernte
dieser Affe mit unfehlbarer Sicherheit bis sieben zählen. Dagegen vermögen die
Bakairi (südamerikanische Indianer) nur bis sechs, und zwar sehr mühsam, zu
zählen! (Siehe Karl von Steinen: Unter den Naturvölkern Brasiliens.)
2) Siehe z. B. Whitney: Das Leben der Sprache (französische Ausgabe,
S. 238 f.).
3) Vergl. namentlich die lichtvollen Ausführungen von Topinard in seiner
Anthropologie S. 159--162. Interessant ist es, festzustellen, dass ein so be-
deutender und zugleich so ausserordentlich vorsichtiger, jeder Phantasterei be-
sonders abholder Naturforscher wie Adolf Bastian den Gliedertieren (mit ihren
sich gegenseitig berührenden Fühlhörnern) eine ihrem Wesen nach der unsrigen
analoge Sprache vindiziert; siehe: Das Beständige in den Menschenrassen, S. VIII
des Vorwortes. In Darwin: Descent of Man, Kap. III, findet man eine besonders
interessante Zusammenstellung der hierher gehörigen Thatsachen und eine ener-
gische Zurückweisung der Paradoxen Max Müller's und Anderer.
4) Siehe z. B. des amerikanischen Professors Franklin H. Giddings: Prin-
zipien der Soziologie
(französische Ausgabe 1897, S. 189): "les bases de l'empire de
l'homme furent posees sur les associations zoogeniques des plus humbles formes de la
vie consciente
".
Das Erbe der alten Welt.
Tier und
Mensch.

Nicht jede künstliche Bethätigung ist Kunst. Zahlreiche Tiere
führen äusserst kunstvolle Bauten auf; der Gesang der Nachtigall
wetteifert erfolgreich mit dem Naturgesang wilder Menschen; will-
kürliche Nachahmung treffen wir hochentwickelt im Tierreich an,
und zwar auf den verschiedensten Gebieten — Nachahmung der
Thätigkeit, des Lautes, der Form — wobei noch zu bedenken ist,
dass wir bis jetzt so gut wie gar nichts von dem Leben der höheren
Affen wissen;1) die Sprache, d. h. also die Mitteilung von Empfindungen
und Urteilen durch ein Individuum an ein anderes, ist durch das
ganze Reich der Animalität weit verbreitet und verfügt oftmals über
so unbegreiflich sichere Mittel, dass nicht allein Anthropologen, sondern
auch Philologen2) die Warnung nicht für überflüssig halten, man
dürfe nicht einzig das Erzittern menschlicher Stimmbänder, überhaupt
nicht bloss den Laut für Sprache halten;3) u. s. w. Durch die instinkt-
mässige Zusammenfügung zu staatlichen Organisationen, und seien
sie noch so vielästig verwickelt, erzielt das menschliche Geschlecht
ebenfalls keinen prinzipiellen Fortschritt über die unendlich kom-
plizierten Tierstaaten; neuere Soziologen bringen sogar die Entstehung
der menschlichen Gesellschaft in engorganische Beziehung zu der Ent-
wicklung der sozialen Instinkte im umgebenden Tierreich.4) Betrachtet

1) Siehe jedoch die Beobachtungen des J. G. Romanes an einem weib-
lichen Schimpansen, am ausführlichsten in der Zeitschrift Nature, Band XL,
S. 160 ff., kürzer in den Büchern desselben Verfassers. In kurzer Zeit lernte
dieser Affe mit unfehlbarer Sicherheit bis sieben zählen. Dagegen vermögen die
Bakairi (südamerikanische Indianer) nur bis sechs, und zwar sehr mühsam, zu
zählen! (Siehe Karl von Steinen: Unter den Naturvölkern Brasiliens.)
2) Siehe z. B. Whitney: Das Leben der Sprache (französische Ausgabe,
S. 238 f.).
3) Vergl. namentlich die lichtvollen Ausführungen von Topinard in seiner
Anthropologie S. 159—162. Interessant ist es, festzustellen, dass ein so be-
deutender und zugleich so ausserordentlich vorsichtiger, jeder Phantasterei be-
sonders abholder Naturforscher wie Adolf Bastian den Gliedertieren (mit ihren
sich gegenseitig berührenden Fühlhörnern) eine ihrem Wesen nach der unsrigen
analoge Sprache vindiziert; siehe: Das Beständige in den Menschenrassen, S. VIII
des Vorwortes. In Darwin: Descent of Man, Kap. III, findet man eine besonders
interessante Zusammenstellung der hierher gehörigen Thatsachen und eine ener-
gische Zurückweisung der Paradoxen Max Müller’s und Anderer.
4) Siehe z. B. des amerikanischen Professors Franklin H. Giddings: Prin-
zipien der Soziologie
(französische Ausgabe 1897, S. 189): «les bases de l’empire de
l’homme furent posées sur les associations zoogéniques des plus humbles formes de la
vie consciente
».
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[56/0079] Das Erbe der alten Welt. Nicht jede künstliche Bethätigung ist Kunst. Zahlreiche Tiere führen äusserst kunstvolle Bauten auf; der Gesang der Nachtigall wetteifert erfolgreich mit dem Naturgesang wilder Menschen; will- kürliche Nachahmung treffen wir hochentwickelt im Tierreich an, und zwar auf den verschiedensten Gebieten — Nachahmung der Thätigkeit, des Lautes, der Form — wobei noch zu bedenken ist, dass wir bis jetzt so gut wie gar nichts von dem Leben der höheren Affen wissen; 1) die Sprache, d. h. also die Mitteilung von Empfindungen und Urteilen durch ein Individuum an ein anderes, ist durch das ganze Reich der Animalität weit verbreitet und verfügt oftmals über so unbegreiflich sichere Mittel, dass nicht allein Anthropologen, sondern auch Philologen 2) die Warnung nicht für überflüssig halten, man dürfe nicht einzig das Erzittern menschlicher Stimmbänder, überhaupt nicht bloss den Laut für Sprache halten; 3) u. s. w. Durch die instinkt- mässige Zusammenfügung zu staatlichen Organisationen, und seien sie noch so vielästig verwickelt, erzielt das menschliche Geschlecht ebenfalls keinen prinzipiellen Fortschritt über die unendlich kom- plizierten Tierstaaten; neuere Soziologen bringen sogar die Entstehung der menschlichen Gesellschaft in engorganische Beziehung zu der Ent- wicklung der sozialen Instinkte im umgebenden Tierreich. 4) Betrachtet 1) Siehe jedoch die Beobachtungen des J. G. Romanes an einem weib- lichen Schimpansen, am ausführlichsten in der Zeitschrift Nature, Band XL, S. 160 ff., kürzer in den Büchern desselben Verfassers. In kurzer Zeit lernte dieser Affe mit unfehlbarer Sicherheit bis sieben zählen. Dagegen vermögen die Bakairi (südamerikanische Indianer) nur bis sechs, und zwar sehr mühsam, zu zählen! (Siehe Karl von Steinen: Unter den Naturvölkern Brasiliens.) 2) Siehe z. B. Whitney: Das Leben der Sprache (französische Ausgabe, S. 238 f.). 3) Vergl. namentlich die lichtvollen Ausführungen von Topinard in seiner Anthropologie S. 159—162. Interessant ist es, festzustellen, dass ein so be- deutender und zugleich so ausserordentlich vorsichtiger, jeder Phantasterei be- sonders abholder Naturforscher wie Adolf Bastian den Gliedertieren (mit ihren sich gegenseitig berührenden Fühlhörnern) eine ihrem Wesen nach der unsrigen analoge Sprache vindiziert; siehe: Das Beständige in den Menschenrassen, S. VIII des Vorwortes. In Darwin: Descent of Man, Kap. III, findet man eine besonders interessante Zusammenstellung der hierher gehörigen Thatsachen und eine ener- gische Zurückweisung der Paradoxen Max Müller’s und Anderer. 4) Siehe z. B. des amerikanischen Professors Franklin H. Giddings: Prin- zipien der Soziologie (französische Ausgabe 1897, S. 189): «les bases de l’empire de l’homme furent posées sur les associations zoogéniques des plus humbles formes de la vie consciente».

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/79>, abgerufen am 24.11.2024.