vor unseren Augen haben,1) -- zweitens, in welchem Sinne die nicht- christlichen Völker keine wahre Geschichte, sondern lediglich Annalen haben.
Geschichte, im höheren Sinne des Wortes, ist einzig jene Ver-Hellas, Rom, Judäa. gangenheit, welche noch gegenwärtig im Bewusstsein des Menschen gestaltend weiterlebt. Aus der vorchristlichen Zeit gewinnt darum Geschichte nur dort ein nicht allein wissenschaftliches, sondern ein allgemein menschliches Interesse, wo sie Völker betrifft, die jener sitt- lichen Neugeburt, welche wir als Christentum bezeichnen, entgegen- eilen. Hellas, Rom und Judäa: sie allein von den Völkern des Alter- tums sind für das lebendige Bewusstsein der Menschen des 19. Jahr- hunderts geschichtlich wichtig.
Vom hellenischen Boden ist uns jeder Zoll heilig, und mit Recht. Drüben, im asiatischen Osten, hatten und haben nicht einmal die Menschen Persönlichkeit, hier, in Hellas, ist jeder Fluss, jeder Stein belebt, individualisiert, die stumme Natur erwacht zum Be- wusstsein ihrer selbst. Und die Männer, durch welche dieses Wunder geschah, stehen vor uns, von den halb fabelhaften Zeiten des troja- nischen Krieges an bis zu der Herrschaft Roms, ein Jeder mit seiner eigenen, unvergleichlichen Physiognomie: Helden, Herrscher, Krieger, Denker, Dichter, Bildner. Hier wurde der Mensch geboren: jener Mensch, fähig ein Christ zu werden. -- Rom ist in mancher Beziehung der grellste Kontrast zu Griechenland; es ist nicht allein geographisch, sondern auch seelisch von Asien, d. h. von semitischen, babylonischen und ägyptischen Einflüssen entfernter; es ist nicht so heiter und genügsam, nicht so flatterhaft; besitzen will das Volk, besitzen will der Einzelne. Vom Erhaben-anschaulichen der Kunst und der Philosophie wendet sich hier der Geist zur Verstandesarbeit der Organisation. Hatte dort ein einzelner Solon, ein einzelner Lykurg, gewissermassen als Dilettant, nämlich aus rein individueller Über- zeugung vom Richtigen, Staatsgrundgesetze geschaffen, hatte später ein ganzes Volk von schwatzenden Dilettanten die Herrschaft an sich gerissen, so entstand in Rom ein langlebiges Gemeinwesen von nüch- ternen, ernsten Gesetzgebern, und während der äussere Horizont, das
1) Es ist durchaus falsch, wenn man solche Wirkungen nicht dem erwachten Seelenleben, sondern lediglich der Rasse zuschreiben zu müssen glaubt; der Bosniak rein serbischer Abstammung und der Makedonier aus der hellenischen Verwandtschaft sind, als Mohammedaner, ebenso fatalistisch und antiindividualistisch in ihrer Gesinnung wie nur irgend ein Osmane.
Einleitendes.
vor unseren Augen haben,1) — zweitens, in welchem Sinne die nicht- christlichen Völker keine wahre Geschichte, sondern lediglich Annalen haben.
Geschichte, im höheren Sinne des Wortes, ist einzig jene Ver-Hellas, Rom, Judäa. gangenheit, welche noch gegenwärtig im Bewusstsein des Menschen gestaltend weiterlebt. Aus der vorchristlichen Zeit gewinnt darum Geschichte nur dort ein nicht allein wissenschaftliches, sondern ein allgemein menschliches Interesse, wo sie Völker betrifft, die jener sitt- lichen Neugeburt, welche wir als Christentum bezeichnen, entgegen- eilen. Hellas, Rom und Judäa: sie allein von den Völkern des Alter- tums sind für das lebendige Bewusstsein der Menschen des 19. Jahr- hunderts geschichtlich wichtig.
Vom hellenischen Boden ist uns jeder Zoll heilig, und mit Recht. Drüben, im asiatischen Osten, hatten und haben nicht einmal die Menschen Persönlichkeit, hier, in Hellas, ist jeder Fluss, jeder Stein belebt, individualisiert, die stumme Natur erwacht zum Be- wusstsein ihrer selbst. Und die Männer, durch welche dieses Wunder geschah, stehen vor uns, von den halb fabelhaften Zeiten des troja- nischen Krieges an bis zu der Herrschaft Roms, ein Jeder mit seiner eigenen, unvergleichlichen Physiognomie: Helden, Herrscher, Krieger, Denker, Dichter, Bildner. Hier wurde der Mensch geboren: jener Mensch, fähig ein Christ zu werden. — Rom ist in mancher Beziehung der grellste Kontrast zu Griechenland; es ist nicht allein geographisch, sondern auch seelisch von Asien, d. h. von semitischen, babylonischen und ägyptischen Einflüssen entfernter; es ist nicht so heiter und genügsam, nicht so flatterhaft; besitzen will das Volk, besitzen will der Einzelne. Vom Erhaben-anschaulichen der Kunst und der Philosophie wendet sich hier der Geist zur Verstandesarbeit der Organisation. Hatte dort ein einzelner Solon, ein einzelner Lykurg, gewissermassen als Dilettant, nämlich aus rein individueller Über- zeugung vom Richtigen, Staatsgrundgesetze geschaffen, hatte später ein ganzes Volk von schwatzenden Dilettanten die Herrschaft an sich gerissen, so entstand in Rom ein langlebiges Gemeinwesen von nüch- ternen, ernsten Gesetzgebern, und während der äussere Horizont, das
1) Es ist durchaus falsch, wenn man solche Wirkungen nicht dem erwachten Seelenleben, sondern lediglich der Rasse zuschreiben zu müssen glaubt; der Bosniak rein serbischer Abstammung und der Makedonier aus der hellenischen Verwandtschaft sind, als Mohammedaner, ebenso fatalistisch und antiindividualistisch in ihrer Gesinnung wie nur irgend ein Osmane.
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Einleitendes.
vor unseren Augen haben, 1) — zweitens, in welchem Sinne die nicht-
christlichen Völker keine wahre Geschichte, sondern lediglich Annalen
haben.
Geschichte, im höheren Sinne des Wortes, ist einzig jene Ver-
gangenheit, welche noch gegenwärtig im Bewusstsein des Menschen
gestaltend weiterlebt. Aus der vorchristlichen Zeit gewinnt darum
Geschichte nur dort ein nicht allein wissenschaftliches, sondern ein
allgemein menschliches Interesse, wo sie Völker betrifft, die jener sitt-
lichen Neugeburt, welche wir als Christentum bezeichnen, entgegen-
eilen. Hellas, Rom und Judäa: sie allein von den Völkern des Alter-
tums sind für das lebendige Bewusstsein der Menschen des 19. Jahr-
hunderts geschichtlich wichtig.
Hellas, Rom,
Judäa.
Vom hellenischen Boden ist uns jeder Zoll heilig, und mit
Recht. Drüben, im asiatischen Osten, hatten und haben nicht einmal
die Menschen Persönlichkeit, hier, in Hellas, ist jeder Fluss, jeder
Stein belebt, individualisiert, die stumme Natur erwacht zum Be-
wusstsein ihrer selbst. Und die Männer, durch welche dieses Wunder
geschah, stehen vor uns, von den halb fabelhaften Zeiten des troja-
nischen Krieges an bis zu der Herrschaft Roms, ein Jeder mit seiner
eigenen, unvergleichlichen Physiognomie: Helden, Herrscher, Krieger,
Denker, Dichter, Bildner. Hier wurde der Mensch geboren:
jener Mensch, fähig ein Christ zu werden. — Rom ist in mancher
Beziehung der grellste Kontrast zu Griechenland; es ist nicht allein
geographisch, sondern auch seelisch von Asien, d. h. von semitischen,
babylonischen und ägyptischen Einflüssen entfernter; es ist nicht
so heiter und genügsam, nicht so flatterhaft; besitzen will das Volk,
besitzen will der Einzelne. Vom Erhaben-anschaulichen der Kunst
und der Philosophie wendet sich hier der Geist zur Verstandesarbeit
der Organisation. Hatte dort ein einzelner Solon, ein einzelner Lykurg,
gewissermassen als Dilettant, nämlich aus rein individueller Über-
zeugung vom Richtigen, Staatsgrundgesetze geschaffen, hatte später ein
ganzes Volk von schwatzenden Dilettanten die Herrschaft an sich
gerissen, so entstand in Rom ein langlebiges Gemeinwesen von nüch-
ternen, ernsten Gesetzgebern, und während der äussere Horizont, das
1) Es ist durchaus falsch, wenn man solche Wirkungen nicht dem erwachten
Seelenleben, sondern lediglich der Rasse zuschreiben zu müssen glaubt; der
Bosniak rein serbischer Abstammung und der Makedonier aus der hellenischen
Verwandtschaft sind, als Mohammedaner, ebenso fatalistisch und antiindividualistisch
in ihrer Gesinnung wie nur irgend ein Osmane.
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/68>, abgerufen am 24.11.2024.
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