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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Allgemeine Einleitung.
Welt gestalten, in welcher die Schönheit und die Harmonie des Da-
seins nicht wie bei Jenen auf Sklaven-, Eunuchen- und Kemenaten-
Wirtschaft ruht! wir dürfen es zuversichtlich wollen, denn wir sehen
diese Welt langsam und mühevoll um unsere kurze Spanne Lebens
entstehen. Und dass sie unbewusst entsteht, thut nichts zur Sache;
schon der halb fabelhafte phönizische Geschichtsschreiber Sanchuniathon
meldet im ersten Absatz seines ersten Buches, wo er von der Welt-
schöpfung spricht: "Die Dinge selbst aber wussten nichts von ihrem
eigenen Entstehen"; auch in dieser Beziehung ist Alles beim Alten
geblieben; die Geschichte bildet ein unerschöpfliches Illustrations-
material zu Mephisto's: "Du glaubst zu schieben und du wirst ge-
schoben." Darum empfinden wir, wenn wir auf unser 19. Jahrhundert
zurückblicken, welches sicherlich mehr geschoben wurde, als es selbst
schob, welches in den allermeisten Dingen auf fast lächerliche
Weise in ganz andere Wege geriet, als es einzuschlagen gedacht hatte,
doch einen Schauer der aufrichtigen Bewunderung, fast der Begeisterung.
In diesem Jahrhundert ist enorm gearbeitet worden, und das ist die
Grundlage alles "Besser- und Glücklicherwerdens"; es war das die
"Moralität" unserer Zeit, wenn ich mich so ausdrücken darf. Und
während die Werkstätte der grossen, gestaltenden Ideen ruhte, wurden
die Methoden der Arbeit in bisher ungeahnter Weise vervollkommnet.

Unser Jahrhundert ist der Triumph der Methodik. Hierin mehr
als in irgend einer politischen Gestaltung ist ein Sieg des demokratischen
Prinzips zu erblicken. Die Gesamtheit rückte hierdurch höher hinauf,
sie wurde leistungsfähiger. In frühen Jahrhunderten konnten nur
geniale Menschen, später nur zumindest hochbegabte Wertvolles leisten;
jetzt kann es ein Jeder, dank der Methode! Durch den obligatorischen
Schulunterricht, gefolgt vom obligatorischen Kampf ums Dasein, be-
sitzen heute Tausende die "Methode", um ohne jede besondere Be-
gabung oder Veranlagung als Techniker, Industrielle, Naturforscher,
Philologen, Historiker, Mathematiker, Psychologen u. s. w. an der
gemeinsamen Arbeit des Menschengeschlechts teilzunehmen. Sonst
wäre die Bewältigung eines so kolossalen Materials in einem so
kurzen Zeitraum gar nicht denkbar. Man vergegenwärtige sich nur,
was vor hundert Jahren unter "Philologie" verstanden wurde! man
frage sich, ob es wahre "Geschichtsforschung" gab! Genau diesem
selben Geist begegnen wir aber auf von der Wissenschaft weit ab-
liegenden Gebieten: die Volksarmeen sind die universellste, einfachste
Anwendung der Methodik und die Hohenzollern insofern die tonan-

Allgemeine Einleitung.
Welt gestalten, in welcher die Schönheit und die Harmonie des Da-
seins nicht wie bei Jenen auf Sklaven-, Eunuchen- und Kemenaten-
Wirtschaft ruht! wir dürfen es zuversichtlich wollen, denn wir sehen
diese Welt langsam und mühevoll um unsere kurze Spanne Lebens
entstehen. Und dass sie unbewusst entsteht, thut nichts zur Sache;
schon der halb fabelhafte phönizische Geschichtsschreiber Sanchuniathon
meldet im ersten Absatz seines ersten Buches, wo er von der Welt-
schöpfung spricht: »Die Dinge selbst aber wussten nichts von ihrem
eigenen Entstehen«; auch in dieser Beziehung ist Alles beim Alten
geblieben; die Geschichte bildet ein unerschöpfliches Illustrations-
material zu Mephisto’s: »Du glaubst zu schieben und du wirst ge-
schoben.« Darum empfinden wir, wenn wir auf unser 19. Jahrhundert
zurückblicken, welches sicherlich mehr geschoben wurde, als es selbst
schob, welches in den allermeisten Dingen auf fast lächerliche
Weise in ganz andere Wege geriet, als es einzuschlagen gedacht hatte,
doch einen Schauer der aufrichtigen Bewunderung, fast der Begeisterung.
In diesem Jahrhundert ist enorm gearbeitet worden, und das ist die
Grundlage alles »Besser- und Glücklicherwerdens«; es war das die
»Moralität« unserer Zeit, wenn ich mich so ausdrücken darf. Und
während die Werkstätte der grossen, gestaltenden Ideen ruhte, wurden
die Methoden der Arbeit in bisher ungeahnter Weise vervollkommnet.

Unser Jahrhundert ist der Triumph der Methodik. Hierin mehr
als in irgend einer politischen Gestaltung ist ein Sieg des demokratischen
Prinzips zu erblicken. Die Gesamtheit rückte hierdurch höher hinauf,
sie wurde leistungsfähiger. In frühen Jahrhunderten konnten nur
geniale Menschen, später nur zumindest hochbegabte Wertvolles leisten;
jetzt kann es ein Jeder, dank der Methode! Durch den obligatorischen
Schulunterricht, gefolgt vom obligatorischen Kampf ums Dasein, be-
sitzen heute Tausende die »Methode«, um ohne jede besondere Be-
gabung oder Veranlagung als Techniker, Industrielle, Naturforscher,
Philologen, Historiker, Mathematiker, Psychologen u. s. w. an der
gemeinsamen Arbeit des Menschengeschlechts teilzunehmen. Sonst
wäre die Bewältigung eines so kolossalen Materials in einem so
kurzen Zeitraum gar nicht denkbar. Man vergegenwärtige sich nur,
was vor hundert Jahren unter »Philologie« verstanden wurde! man
frage sich, ob es wahre »Geschichtsforschung« gab! Genau diesem
selben Geist begegnen wir aber auf von der Wissenschaft weit ab-
liegenden Gebieten: die Volksarmeen sind die universellste, einfachste
Anwendung der Methodik und die Hohenzollern insofern die tonan-

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[34/0057] Allgemeine Einleitung. Welt gestalten, in welcher die Schönheit und die Harmonie des Da- seins nicht wie bei Jenen auf Sklaven-, Eunuchen- und Kemenaten- Wirtschaft ruht! wir dürfen es zuversichtlich wollen, denn wir sehen diese Welt langsam und mühevoll um unsere kurze Spanne Lebens entstehen. Und dass sie unbewusst entsteht, thut nichts zur Sache; schon der halb fabelhafte phönizische Geschichtsschreiber Sanchuniathon meldet im ersten Absatz seines ersten Buches, wo er von der Welt- schöpfung spricht: »Die Dinge selbst aber wussten nichts von ihrem eigenen Entstehen«; auch in dieser Beziehung ist Alles beim Alten geblieben; die Geschichte bildet ein unerschöpfliches Illustrations- material zu Mephisto’s: »Du glaubst zu schieben und du wirst ge- schoben.« Darum empfinden wir, wenn wir auf unser 19. Jahrhundert zurückblicken, welches sicherlich mehr geschoben wurde, als es selbst schob, welches in den allermeisten Dingen auf fast lächerliche Weise in ganz andere Wege geriet, als es einzuschlagen gedacht hatte, doch einen Schauer der aufrichtigen Bewunderung, fast der Begeisterung. In diesem Jahrhundert ist enorm gearbeitet worden, und das ist die Grundlage alles »Besser- und Glücklicherwerdens«; es war das die »Moralität« unserer Zeit, wenn ich mich so ausdrücken darf. Und während die Werkstätte der grossen, gestaltenden Ideen ruhte, wurden die Methoden der Arbeit in bisher ungeahnter Weise vervollkommnet. Unser Jahrhundert ist der Triumph der Methodik. Hierin mehr als in irgend einer politischen Gestaltung ist ein Sieg des demokratischen Prinzips zu erblicken. Die Gesamtheit rückte hierdurch höher hinauf, sie wurde leistungsfähiger. In frühen Jahrhunderten konnten nur geniale Menschen, später nur zumindest hochbegabte Wertvolles leisten; jetzt kann es ein Jeder, dank der Methode! Durch den obligatorischen Schulunterricht, gefolgt vom obligatorischen Kampf ums Dasein, be- sitzen heute Tausende die »Methode«, um ohne jede besondere Be- gabung oder Veranlagung als Techniker, Industrielle, Naturforscher, Philologen, Historiker, Mathematiker, Psychologen u. s. w. an der gemeinsamen Arbeit des Menschengeschlechts teilzunehmen. Sonst wäre die Bewältigung eines so kolossalen Materials in einem so kurzen Zeitraum gar nicht denkbar. Man vergegenwärtige sich nur, was vor hundert Jahren unter »Philologie« verstanden wurde! man frage sich, ob es wahre »Geschichtsforschung« gab! Genau diesem selben Geist begegnen wir aber auf von der Wissenschaft weit ab- liegenden Gebieten: die Volksarmeen sind die universellste, einfachste Anwendung der Methodik und die Hohenzollern insofern die tonan-

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/57>, abgerufen am 24.11.2024.