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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
allen katholischen Schulen als Gesetz gilt!1) Wie rührend ist es, die
rauhen Goten im Besitze ihrer gotischen Bibel zu wissen, den Worten
Christi mit staunendem Halbverständnis lauschend, als erklängen sie
aus irgend einem uralten fast vergessenen Märchen, oder als dränge
eine noch ferne Stimme an ihr Ohr, sie zu einer schönen, unvor-
stellbaren Zukunft heranrufend, dann im einfach gezimmerten Gottes-
hause oder im Kirchenzelt2) auf die Knie sinkend und wie die Kinder
um das Allernächstliegende betend! Doch jetzt war das alles ent-
schwunden: die Bibel sollte einzig und allein in der lateinischen
Vulgata -- also nur von Gelehrten -- gelesen werden und war
selbst Priestern und Mönchen bald so wenig bekannt, dass schon
Karl der Grosse die Bischöfe ermahnen musste, sich ernstlicher mit
der Erforschung der heiligen Schrift abzugeben;3) der heilige Gottes-
dienst durfte fortan nur in einer Sprache gehalten werden, die kein
Laie verstand.4) Wie leuchtend klar tritt schon zu Beginn des 13. Jahr-

1) Dass Thomas von Aquin durch seine Mutter vom staufischen Hause
abstammte und frühzeitig deutsches Wissen und Denken auf sich einwirken liess
(Albertus Magnus), darf freilich auch nicht vergessen werden. Wo hätte das Chaos
etwas Grosses ausgerichtet -- und Aquin's geistige Leistung ist eine bewunderns-
wert grosse, starke -- ohne die Hilfe von Germanen?
2) Siehe Hieronymus: Epist. ad Laetam.
3) Döllinger: Das Kaisertum Karl's des Grossen, in Akad. Vortr., III, 102.
4) Interessant ist es, in dieser Verbindung darauf aufmerksam zu machen, dass
Papst Leo XIII. durch die Konstitution Officiorum numerum vom 25. Januar 1897
die Bestimmungen des Index verbotener Bücher "nicht unerheblich verschärft hat"
(so sagt der orthodox-römische Kommentator Professor Hollweck: Das kirchliche
Bücherverbot,
2. Auflage, 1897, S. 15). Der alte freiheitliche germanische Geist
hatte sich nämlich auch unter den gläubigen Katholiken in Frankreich und Deutsch-
land in unserem Jahrhundert zu regen begonnen; kirchliche Lehrer behaupteten,
der Index gelte für diese Länder nicht, Bischöfe verlangten weitgehende Änderungen
in freiheitlichem Sinne, Laien (Koblenz 1869) vereinigten sich zu Adressen, in
denen sie die völlige Abschaffung des Index forderten (siehe a. a. O., S. 13, 14);
da antwortete Rom mit einer Verschärfung des Bücherverbotes, über welche jeder
Laie in der genannten bischöflich approbierten Schrift sich informieren kann. Nach
diesem Gesetze ist dem gläubigen römischen Katholiken so ziemlich die gesamte
Weltlitteratur verboten, und selbst solche Autoren wie Dante dürfte er nur in stark
expungierten, "bischöflich approbierten" Ausgaben lesen. Besonders bemerkenswert
ist aber, dass das Lesen der Bibel in der Volkssprache nach einer getreuen, voll-
ständigen Ausgabe, auch wenn diese von Katholiken besorgt wird, "bei
schwerer Sünde" verboten ist! Nur die besonders redigierten und mit Anmerkungen
versehenen, vom heiligen Stuhl "approbierten" Ausgaben dürfen gelesen werden
(a. a. O., S. 29). Übrigens kann diese Sorge nur für schon wankende Gemüter
gelten, denn es wird im Religionsunterricht u. s. w. so eindringlich vor der

Die Erben.
allen katholischen Schulen als Gesetz gilt!1) Wie rührend ist es, die
rauhen Goten im Besitze ihrer gotischen Bibel zu wissen, den Worten
Christi mit staunendem Halbverständnis lauschend, als erklängen sie
aus irgend einem uralten fast vergessenen Märchen, oder als dränge
eine noch ferne Stimme an ihr Ohr, sie zu einer schönen, unvor-
stellbaren Zukunft heranrufend, dann im einfach gezimmerten Gottes-
hause oder im Kirchenzelt2) auf die Knie sinkend und wie die Kinder
um das Allernächstliegende betend! Doch jetzt war das alles ent-
schwunden: die Bibel sollte einzig und allein in der lateinischen
Vulgata — also nur von Gelehrten — gelesen werden und war
selbst Priestern und Mönchen bald so wenig bekannt, dass schon
Karl der Grosse die Bischöfe ermahnen musste, sich ernstlicher mit
der Erforschung der heiligen Schrift abzugeben;3) der heilige Gottes-
dienst durfte fortan nur in einer Sprache gehalten werden, die kein
Laie verstand.4) Wie leuchtend klar tritt schon zu Beginn des 13. Jahr-

1) Dass Thomas von Aquin durch seine Mutter vom staufischen Hause
abstammte und frühzeitig deutsches Wissen und Denken auf sich einwirken liess
(Albertus Magnus), darf freilich auch nicht vergessen werden. Wo hätte das Chaos
etwas Grosses ausgerichtet — und Aquin’s geistige Leistung ist eine bewunderns-
wert grosse, starke — ohne die Hilfe von Germanen?
2) Siehe Hieronymus: Epist. ad Laetam.
3) Döllinger: Das Kaisertum Karl’s des Grossen, in Akad. Vortr., III, 102.
4) Interessant ist es, in dieser Verbindung darauf aufmerksam zu machen, dass
Papst Leo XIII. durch die Konstitution Officiorum numerum vom 25. Januar 1897
die Bestimmungen des Index verbotener Bücher »nicht unerheblich verschärft hat«
(so sagt der orthodox-römische Kommentator Professor Hollweck: Das kirchliche
Bücherverbot,
2. Auflage, 1897, S. 15). Der alte freiheitliche germanische Geist
hatte sich nämlich auch unter den gläubigen Katholiken in Frankreich und Deutsch-
land in unserem Jahrhundert zu regen begonnen; kirchliche Lehrer behaupteten,
der Index gelte für diese Länder nicht, Bischöfe verlangten weitgehende Änderungen
in freiheitlichem Sinne, Laien (Koblenz 1869) vereinigten sich zu Adressen, in
denen sie die völlige Abschaffung des Index forderten (siehe a. a. O., S. 13, 14);
da antwortete Rom mit einer Verschärfung des Bücherverbotes, über welche jeder
Laie in der genannten bischöflich approbierten Schrift sich informieren kann. Nach
diesem Gesetze ist dem gläubigen römischen Katholiken so ziemlich die gesamte
Weltlitteratur verboten, und selbst solche Autoren wie Dante dürfte er nur in stark
expungierten, »bischöflich approbierten« Ausgaben lesen. Besonders bemerkenswert
ist aber, dass das Lesen der Bibel in der Volkssprache nach einer getreuen, voll-
ständigen Ausgabe, auch wenn diese von Katholiken besorgt wird, »bei
schwerer Sünde« verboten ist! Nur die besonders redigierten und mit Anmerkungen
versehenen, vom heiligen Stuhl »approbierten« Ausgaben dürfen gelesen werden
(a. a. O., S. 29). Übrigens kann diese Sorge nur für schon wankende Gemüter
gelten, denn es wird im Religionsunterricht u. s. w. so eindringlich vor der
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[518/0541] Die Erben. allen katholischen Schulen als Gesetz gilt! 1) Wie rührend ist es, die rauhen Goten im Besitze ihrer gotischen Bibel zu wissen, den Worten Christi mit staunendem Halbverständnis lauschend, als erklängen sie aus irgend einem uralten fast vergessenen Märchen, oder als dränge eine noch ferne Stimme an ihr Ohr, sie zu einer schönen, unvor- stellbaren Zukunft heranrufend, dann im einfach gezimmerten Gottes- hause oder im Kirchenzelt 2) auf die Knie sinkend und wie die Kinder um das Allernächstliegende betend! Doch jetzt war das alles ent- schwunden: die Bibel sollte einzig und allein in der lateinischen Vulgata — also nur von Gelehrten — gelesen werden und war selbst Priestern und Mönchen bald so wenig bekannt, dass schon Karl der Grosse die Bischöfe ermahnen musste, sich ernstlicher mit der Erforschung der heiligen Schrift abzugeben; 3) der heilige Gottes- dienst durfte fortan nur in einer Sprache gehalten werden, die kein Laie verstand. 4) Wie leuchtend klar tritt schon zu Beginn des 13. Jahr- 1) Dass Thomas von Aquin durch seine Mutter vom staufischen Hause abstammte und frühzeitig deutsches Wissen und Denken auf sich einwirken liess (Albertus Magnus), darf freilich auch nicht vergessen werden. Wo hätte das Chaos etwas Grosses ausgerichtet — und Aquin’s geistige Leistung ist eine bewunderns- wert grosse, starke — ohne die Hilfe von Germanen? 2) Siehe Hieronymus: Epist. ad Laetam. 3) Döllinger: Das Kaisertum Karl’s des Grossen, in Akad. Vortr., III, 102. 4) Interessant ist es, in dieser Verbindung darauf aufmerksam zu machen, dass Papst Leo XIII. durch die Konstitution Officiorum numerum vom 25. Januar 1897 die Bestimmungen des Index verbotener Bücher »nicht unerheblich verschärft hat« (so sagt der orthodox-römische Kommentator Professor Hollweck: Das kirchliche Bücherverbot, 2. Auflage, 1897, S. 15). Der alte freiheitliche germanische Geist hatte sich nämlich auch unter den gläubigen Katholiken in Frankreich und Deutsch- land in unserem Jahrhundert zu regen begonnen; kirchliche Lehrer behaupteten, der Index gelte für diese Länder nicht, Bischöfe verlangten weitgehende Änderungen in freiheitlichem Sinne, Laien (Koblenz 1869) vereinigten sich zu Adressen, in denen sie die völlige Abschaffung des Index forderten (siehe a. a. O., S. 13, 14); da antwortete Rom mit einer Verschärfung des Bücherverbotes, über welche jeder Laie in der genannten bischöflich approbierten Schrift sich informieren kann. Nach diesem Gesetze ist dem gläubigen römischen Katholiken so ziemlich die gesamte Weltlitteratur verboten, und selbst solche Autoren wie Dante dürfte er nur in stark expungierten, »bischöflich approbierten« Ausgaben lesen. Besonders bemerkenswert ist aber, dass das Lesen der Bibel in der Volkssprache nach einer getreuen, voll- ständigen Ausgabe, auch wenn diese von Katholiken besorgt wird, »bei schwerer Sünde« verboten ist! Nur die besonders redigierten und mit Anmerkungen versehenen, vom heiligen Stuhl »approbierten« Ausgaben dürfen gelesen werden (a. a. O., S. 29). Übrigens kann diese Sorge nur für schon wankende Gemüter gelten, denn es wird im Religionsunterricht u. s. w. so eindringlich vor der

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 518. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/541>, abgerufen am 23.11.2024.